- Nachname:
- Kretschmer
- Vorname:
- Ernst
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Neurologie
Psychiatrie
Psychotherapie - Geburtsort:
- Wüstenrot (CHE)
- * 08.10.1888
- † 08.02.1964
Kretschmer, Ernst
Deutscher Psychiater und Neurologe, Konstitutionstheoretiker und Psychopathologe.
Berufsweg
Ernst Kretschmer (1888-1964), Sohn eines Landpfarrers, wurde in Wüstenrot bei Heilbronn geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums samt Brückenkurs ab 1904 am evangelischen Seminar in Urach studierte er ab 1906 zwei Semester Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte in Tübingen und wechselte dann zur Medizin in München und Hamburg. Die Facharztausbildung absolvierte er in Tübingen bei Robert Gaupp und promovierte bei ihm 1914 über Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. Anschließend arbeitete er im Ersten Weltkrieg vier Jahre in einem Reservelazarett auf einer Nervenstation in Bad Mergentheim. Dort behandelte er traumatisierte Soldaten u.a. mit Suggestion, Strom und Dunkelzimmerisolation und vertrat 1917 die umstrittene Ansicht, ihre Symptome seien häufig „willens- und wunschbedingt” (vgl. Müller 2007, S. 389; Fischer-Homberger 1971).
Am 4. Oktober 1915 heiratete er Marie Luise Elisabeth Pregizer. Von den vier Kindern wurden Ernst Wolfgang Kretschmer (geb. 1918) und Manfred Richard Martin Kretschmer (geb. 1927) ebenfalls Psychiater. 1918 habilitierte Kretschmer sich auf Anregung Gaupps und erhielt eine außerordentliche Professur in Tübingen. Seine Medizinische Psychologie von 1920 wurde vielfach wieder aufgelegt. 1926 erhielt er eine ordentliche Professur für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Marburg sowie die Direktion der Nervenklinik. 1926 gründete er die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) mit und trat für psychosentherapeutische Verfahren sowie die „gestufte Aktivhypnose“ als Form des autogenen Trainings ein (vgl. Stetter 1994). Nach 1933 blieb er ärztlich und berufspolitisch aktiv. 1940 beschrieb er erstmals das Syndrom reaktionsloser Wachheit als „apallisches Syndrom“. Seit 1942 beriet er den Wehrkreis IX im Rang eines Oberstabsarztes (ab 1944 Oberfeldarzt; Günther 2008, S. 7). Von 1943 bis 1946 war er Dekan der Medizinischen Fakultät in Marburg. 1946 kehrte er als Ordinarius nach Tübingen zurück, reorganisierte die Klinik, arbeitete als Gutachter und gründete 1951 die Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie. Bis zuletzt arbeitete er an der von ihm aufgebauten Forschungsstelle für Konstitutions- und Arbeitspsychologie. 1959 übergab er die Klinik seinem Schüler Walter Schulte. Ernst Kretschmer starb 1964 in Tübingen an Krebs.
Hauptvertreter der Tübinger Schule
Kretschmer ist neben Robert Gaupp der wichtigste Vertreter der persönlichkeitstheoretisch und psychogenetisch orientierten Tübinger Schule. Er hielt an der psychophysischen Einheit der Person fest und ging von einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit aus. Kretschmer setzte in seiner Habilitationsschrift Der sensitive Beziehungswahn von 1918 Gaupps Wahnforschung fort. Er beschrieb einen affektiv schwingungsfähigen Typus von Paranoikern (im Gegensatz zu den „Wunsch- und Kampfparanoikern”) mit günstigerer Prognose als Kraepelin (1904, S. 595 f.) in seiner klassischen Definition der Paranoia angenommen hatte. Im Sinne einer multidimensionalen Ätiologie seien „Charakter, Erlebnis und Milieu“ ausschlaggebend: „Beziehungswahn entsteht durch die Kumulativwirkung typischer Erlebnisse bzw. Lebenssituationen auf typische Charakteranlagen und konstitutioneller Labilitäten, häufig unter Mithilfe typischer sozialer Konstellationen.” (Kretschmer 1918, S. 148). Das Konzept wurde teils abgelehnt (Kraepelin), teils begrüßt (Jaspers) (vgl. Priwitzer 2007; Richartz & Wormstall 1996).
Kretschmers (1921) erfolgreichstes Werk war Körperbau und Charakter. Im ersten Teil klassifizierte er körperliche Merkmale auf erbbiologischer Basis im Zusammenhang mit Persönlichkeitstypen, Störungsdispositionen und ihren Mischformen. Die Merkmale bezogen sich auf das Skelett, Drüsenfunktionen oder auch die Körperbehaarung. Die vier Grundtypen (schlank, dick, muskulös, unförmig) projizierte er, angelehnt an Kraepelins nosologischer Dichothomie zwischen „Dementia praecox“ und „manisch-depressivem Irresein“, auf die zwei angeblich primären psychischen „Formenkreise“ der „Schizotypie“ und „Zyklothomie“. „Asthenische“ oder „leptosome“, schlanke Personen seien affin zur Schizophrenie, „athletische“ und muskulöse Typen zur Epilepsie und „pyknische“, rundliche Personen zu bipolaren Störungen. Im zweiten Teil analysierte er Beispiele von Hochbegabten, seine Sympathie galt den Pyknikern. Trotz Trennung zwischen Persönlichkeitsentwicklung und sozialen Lebensbedingungen sowie der Konstruktion abstrakter Typen durch medikale und normative Arttribute blieb die Typologie bis in die sechziger Jahre geläufig und wurde 1966 von dem Psychometriker Detlev von Zerssen empirisch widerlegt (vgl. Petermann 2013).
Stellung im Nationalsozialismus
Einerseits galt Kretschmer ab 1933 als „liberalistischer“ Regimegegner, wurde 1934 und 1936 von Berufungslisten gestrichen, trat 1933 als Vorsitzender der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie zurück (Lockot 1985, S. 74 ff.), geriet ab 1942 als Dekan in Konflikte mit der Gauleitung, bestritt entschieden das Ideal der „nordischen Reinrassigkeit”, schrieb Gegengutachten bei Anträgen auf Sterilisierung (Matz 2002, S. 20 ff.) und vertrat an der Marburger Klinik, von der nur selten Sterilisierungsanträge ausgingen, einen engen Schizophreniebegriff (Ebner 2010, S. 106; Person 2005, S. 234 f.). Im April 1934 veranlasste die SS eine Befragung an der Klinik durch das preußische Kultusministerium über angeblich zu vorsichtige Sterilisierungs-Indikationen (Nagel & Sieg 2000, S. 241 f.). Die Überlieferung, Kretschmer habe den Romanisten und Widerstandskämpfer Werner Krauss exkulpiert und vor der Hinrichtung gerettet, schränkt Müller (2001, S. 278 ff.) auf ein ärztliches Zeugnis ein, das Kretschmer angefertigt habe. Allerdings habe er den Theologen Karl-Bernhard Ritter durch falsche Diagnosen vor der Gestapo geschützt (Müller 2007, S. 394).
Anderseits unterzeichnete Kretschmer 1933 mit 900 anderen Hochschullehrern das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. 1934 forderte er in Ernst Rüdins Sammelband zur Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat die eugenische „Hochzüchtung“ der Bevölkerung durch Eheberatung und „konsequente Ausmerzung“ von „Erbkranken“ insbesondere bei „asozialen Schwachsinnigen“. Diese Position vertrat er noch 1942 im Vorwort zu Geniale Menschen: „Was im wesentlichen entartet ist, das werden wir ruhig aus der Vererbung ausschalten können, sofern nicht die Natur selbst es schon tut. Damit ist auch schon die große Hauptmasse dessen getroffen, was unsere modernen rassehygienischen Maßnahmen gesetzgeberisch im Auge haben“ (S. XVI). Nach Klee (2005, S. 339) war Kretschmer zwar nie Mitglied der NSDAP, jedoch 1933 förderndes Mitglied der SS. Er sei Richter an Erbgesundheitsgerichten gewesen, habe 1940 die Tötungsanstalt Bernburg besichtigt und an Sitzungen des Beirats der „Aktion T4“ teilgenommen. Als Oberfeldarzt führte er 1944 im Ersten Weltkrieg erprobte, aber ethisch problematische Methoden weiter („Wachsuggestionstherapie”; Müller 2007, S. 394 f.).
Nachkriegszeit
Kretschmer (1963, S. 216) dankte in seiner Selbstbiographie Gestalten und Gedanken den Menschen, die ihn „geschützt” hätten und charakterisierte seine Haltung zwischen 1933 und 1945 als „Durchhalten bis zuletzt”. In der Nachkriegszeit war er eine der wissenschaftlichen Leitfiguren der deutschen Psychiatrie. Er engagierte sich weder für die Aufarbeitung eigener eugenischer Positionen oder der NS-Patiententötungen noch in den zeitgenössischen Debatten zur Bedeutung der anthropologischen und sozialen Psychiatrie.
Auszeichnungen
1943: Josef-Schneider-Preis, Universität Würzburg.
1956: Kraepelin-Medaille.
1958: Großes Bundesverdienstkreuz.
Literatur
Ebner, S. (2010): Schizophrene Patienten in der Marburger Universitätspsychiatrie während des Zweiten Weltkrieges. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der gesamten Humanmedizin dem Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg.
Fischer-Homberger, E. (1971): Der Begriff des freien Willens in der Geschichte der traumatischen Neurose. In: Clio Medica 6, S. 121-137.
Günther, K. (2008): Diagnose „Psychopath“ – Die Behandlung von Soldaten und Zivilisten in der Marburger Universitäts-Nervenklinik 1939-1945. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der gesamten Humanmedizin dem Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg.
Klee, E. (2005): Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer.
Kraepelin, E. (1904): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. II. Band. Klinische Psychiatrie. 7. Auflage. Leipzig: Barth.
Kretschmer, E. (1914): Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. Berlin: De Gruyter.
Kretschmer, E. (1917): Hysterische Erkrankung und hysterische Gewöhnung. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 37, (1), S. 64-91.
Kretschmer, E. (1918): Der sensitive Beziehungswahn. Heidelberg, Berlin: Springer.
Kretschmer, E. (1920): Medizinische Psychologie. Leipzig: Thieme.
Kretschmer, E. (1921) Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. Heidelberg, Berlin: Springer.
Kretschmer, E. (1929): Geniale Menschen. Dritte Auflage. Heidelberg, Berlin: Springer 1942.
Kretschmer, E. (1934): Konstitutionslehre und Rassenhygiene. In: E. Rüdin (Hg.): Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat. Tatsachen und Richtlinien. München: J. F. Lehmanns, S. 184-193.
Kretschmer, E. (1963): Gedanken und Gestalten. Stuttgart: Thieme.
Kretschmer, E. (1974): Psychiatrische Schriften 1914-1962. Hg. von Wolfgang Kretschmer. Heidelberg, Berlin, New York: Springer
Lockot, R. (1985): Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Fischer.
Matz, B. (2000): Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Ein Beitrag zur Geschichte von Psychiatrie und Psychologie des Zwanzigsten Jahrhunderts. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades Doctor rerum medicarum des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität Berlin.
Müller, R. (2001): Wege zum Ruhm. Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Marburg. Köln: PapyRossa.
Müller, R. (2007): “Viele haben, mehr als ich, in Not und Tod gelitten”. Die Rolle Ernst Kretschmers bei der Kontinuitätssicherung der Psychiatrie. In: S. Oehler-Klein, V. Roelcke (Hg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Stuttgart: Steiner, S. 387-405.
Nagel, A. C., U. Sieg (2000; Hg.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus: Dokumente zu ihrer Geschichte. Stuttgart: Steiner.
Person, J. (2005): Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930. Würzburg: Königshausen + Neumann.
Petermann, F. (2013): Interview. Prof. Dr. med. Detlev von Zerssen. In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 61, (3), S.197-201.
Priwitzer, M. (2007): Ernst Kretschmer und das Wahnproblem. Stuttgart: Steiner.
Richartz, E., Wormstall, H. (1996): Der sensitive Beziehungswahn – nur noch von historischer Bedeutung? In: Der Nervenarzt 67, (7), S. 595-598.
Spoerri, T. (1958): Zum 70. Geburtstag von Ernst Kretschmer. In: Psychiatria et Neurologia 136, (4/5), S. 193-194.
Stetter F. (1994) Gestufte Aktivhypnose, autogenes Training und zweigleisige Psychotherapie. Historischer Hintergrund und aktuelle Bedeutung der Therapieansätze von Ernst Kretschmer. In: Fundamenta psychiatrica 8, S. 14-20.
Zerssen, D. von (1966): Körperbau, Psychose und Persönlichkeit. In: Der Nervenarzt 37, (2), S. 52-59.
Burkhart Brückner, Ansgar Fabri
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Zitierweise
Burkhart Brückner, Ansgar Fabri (2015):
Kretschmer, Ernst.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/109-kretschmer-ernst
(Stand vom:30.10.2024)