- Nachname:
- Zutt
- Vorname:
- Jürg
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Neurologie
Psychiatrie
Sozialpsychiatrie
Anthropologische Psychiatrie - Geburtsort:
- Bremen (DEU)
- * 28.06.1893
- † 13.11.1980
Zutt, Jürg
Deutscher Psychiater mit phänomenologisch-anthropologischer Orientierung.
Jürg Zutt (1893-1980) kam als drittes Kind des Rechtsanwalts Adolf Zutt und seiner Frau Ida (geb. Müller) in Karlsruhe zur Welt. Die Eltern starben früh (die Mutter 1897, der Vater 1907), Zutt beendete die Schulzeit in einer Pflegefamilie. Nach dem Abitur 1911 studierte er Medizin in Freiburg und Kiel, unterbrochen vom Militärdienst 1914/18. Nach der Promotion 1920 bildete er sich bei Karl Abraham psychoanalytisch weiter, ging als Volontär ans Berliner Krankenhaus am Urban sowie an die Charité und dann ab März 1922 zu Eugen Bleuler nach Zürich. 1923 wurde er Assistent bei Karl Bonhoeffer an der Charité Berlin, der ihn stark beeinflusste (vgl. Schönknecht 2012; 1999; 1998). Mit seinem Freund und Kollegen Erwin Straus besuchte er einen Gesprächskreis mit Viktor v. Gebsattel und Jacob Klein und gründete 1928 zusammen mit Wilhelm Mayer-Gross, Karl Hansen und Kurt Beringer die Zeitschrift Der Nervenarzt. 1932 habilitierte er sich zum Thema Rechts-Links-Störung, konstruktive Apraxie und reine Agraphie und erhielt 1936 eine außerplanmäßige Professur an der Charité, die 1939 verbeamtet wurde. Seine Frau Ilse Renate (geb. Braun-Wogau) heiratete er 1937, sie brachte einen Sohn – Caspar Kulenkampff – mit in die Ehe, der um 1970 zu einer Schlüsselfigur der deutschen Psychiatriereform wurde.
Gutachtertätigkeit: Reichstagsbrandstiftung und Sterilisationsanträge
Am 30. März 1933 beendete Bonhoeffer zusammen mit Zutt das Gutachten Über den Geisteszustand des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe, das sie 1934 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie erläuterten. Sie hielten den am 10. Januar 1934 hingerichteten Angeklagten, dessen Urteil 2007 aufgehoben wurde, für einen „Psychopathen“, der zur Tatzeit allerdings „nicht in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit“ gehandelt habe. Zur Verhandlungsfähigkeit schwiegen sie, diese wurde dem Gericht erst kurz vor der Urteilsverkündung von dem Leipziger Medizinalrat Richard Schütz bestätigt. 1934 bekräftigten sie van der Lubbes Verhandlungsfähigkeit, obwohl sie nach zweimonatiger Verhandlung eine kurzzeitige psychotische Reaktion in der Untersuchungshaft nicht ausschließen wollten (vgl. Bonhoeffer & Zutt 1934 in Pfäfflin 2008, S. 117 f.; Gerrens 1993; Bahar & Kugel 2001, S. 485 f.).
Von 1934 bis 1938 wurden an der Charité 1.072 Anträge auf Sterilisation begutachtet, wovon die Hälfte abgewiesen wurde (Reichsdurchschnitt: 7-15 %; Helmchen 2014). Zutt votierte am häufigsten positiv (55 % Befürwortungen, 93 Personen). Zu berücksichtigen ist, dass die Zustimmungsraten von der Verteilung auf die Abteilungen der Klinik abhingen und Zutt überwiegend als Obergutachter arbeitete, was ihm Fälschungen von Gutachten erschwert hätte (Gerrens 1996, S. 100). 1939 wurde er als Stabsarzt eingezogen und arbeitete bis zum 8. Mai 1945 als Leiter der Nervenpoliklinik der Charité und parallel als leitender Arzt der Kuranstalten Berlin Westend.
Verstehende Anthropologie und Sozialpsychiatrie
Nach dem Krieg leitete Jürg Zutt kommissarisch die Universitäts-Nervenklinik der Charité, nahm jedoch am 1. Oktober 1946 den Ruf auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Nervenheilkunde der Universität Würzburg an und wechselte 1950 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie der Universität Frankfurt am Main. Zwischen 1954 und 1965 war er Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie (DGPN) und ab 1961 Präsident des Gesamtverbandes Deutscher Nervenärzte. Um 1953 stellte Zutt zunehmend den Reduktionismus und die Erblichkeits- und Defekttheoreme der damaligen Psychiatrie in Frage und entwarf eine daseinsanalytisch beeinflusste verstehende Anthropologie. Menschliche Grundgegebenheiten (Leiblichkeit, Vertrauen, Angst, Geborgenheit) sollten im Kontext von Milieu und „Lebensweg“ als präreflexive anthropologische Struktur erkennbar werden.
1959 baute Zutts Ziehsohn Caspar Kulenkampff, der an der Frankfurter Klinik als Oberarzt tätig war, die erste sozialpsychiatrische Abteilung in Deutschland auf (mit Tages- und Nachtklinik und Übergangswohnheim; Schönknecht 1999, S. 33). Zudem wurde in Frankfurt unter Zutts Leitung ein überregionales neurologisches Zentrum für therapeutische und wissenschaftliche Zwecke errichtet. Im März 1964 wurde Zutt emeritiert, blieb aber als Vortragender und Autor aktiv. 1970 untersuchte er im Nachwort zu dem Buch Freiheitsverlust und Freiheitsentziehung psychiatrische Hospitalisierungsschäden sowie 1972 in Ergriffenheit und Besessenheit auch ethnopsychiatrische Fragestellungen. Er starb 1980 im Alter von 87 Jahren.
Literatur
Bahar, A., W. Kugel (2001): Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird. Berlin: Edition q.
Bonhoeffer, K., J. Zutt (1934): Über den Geisteszustand des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 89, (4), S. 185-213.
Gerrens, U. (1991): Zum Karl-Bonhoeffer-Gutachten vom 30. März 1933 im Reichstagsbrandprozess. In: D. Unverhau (Hg.): Berlin in Geschichte und Gegenwart, S. 45-116.
Gerrens, U. (1996): Medizinisches Ethos und theologische Ethik: Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinandersetzung um Zwangssterilisation und „Euthanasie“. (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 73). München: Oldenbourg.
Helmchen, H. (2014): Bonhoeffers Position zur Sterilisation psychisch Kranker. In: Der Nervenarzt 86, (1), S. 77-82.
Pfäfflin, F. (2008): Zur Aufhebung des Todesurteils gegen den Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe. In: Recht & Psychiatrie 26, S. 106-118.
Schönknecht, P. (1998): Jürg Zutt. 1893-1980. In: H. Hippius, B. Holdorff, H. Schliack (Hg.): Nervenärzte 2, Biographien. Stuttgart: Thieme, S. 223-231.
Schönknecht, P. (1999): Die Bedeutung der verstehenden Anthropologie von Jürg Zutt (1893-1980) für Theorie und Praxis der Psychiatrie. Würzburg: Königshausen + Neumann.
Schönknecht, P., T. Dening (2012): Between phenomenological and community psychiatry: the Comprehending Anthropology of Jürg Zutt. In: History of Psychiatry 23, (2), S. 182-193.
Mair, R., J. Zutt (1922): Zur Frage des Zusammenhanges zwischen Homosexualität und Körperbau. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 52, (1), S. 54-63.
Zutt, J. (1929): Die innere Haltung. Eine psychologische Untersuchung und ihre Bedeutung für die Psychopathologie insbesondere im Bereich schizophrener Erkrankungen. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 73, (3/4), S. 52-100 [1. Teil]; (5/6), S. 243-262 [2. Teil], S. 330-357 [3. Teil].
Zutt, J. (1954): Der Lebensweg als Bild der Geschichtlichkeit. Über Krisen auf dem Lebensweg. In: J. Zutt: Auf dem Wege zu einer Anthropologischen Psychiatrie. Berlin, Heidelberg: Springer 1963, S. 352-357.
Zutt, J. (1956): Das Schizophrenieproblem. Nosologische Hypothesen. In: Klinische Wochenschrift 34, (25/26), S. 679-684.
Zutt, J. (1958): Über den tragenden Leib. (Über den werdenden, wachsenden, blühenden, welkenden und vergehenden Leib). In: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie 6, S. 166-175.
Zutt, J., C. Kulenkampff (1958; Hg.): Das paranoide Syndrom in anthropologischer Sicht. Symposium auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Psychiatrie im September 1957 in Zürich. Berlin, Heidelberg: Springer.
Zutt, J. (1963): Auf dem Wege zu einer Anthropologischen Psychiatrie. Berlin, Heidelberg: Springer.
Zutt, J., E. Straus (1963a): Die Wahnwelten (Endogene Psychosen). Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft.
Zutt, J. (1963a): Über verstehende Anthropologie. In: H. W. Gruhle, R. Jung, W. Mayer-Gross, M. Müller: Grundlagen und Methoden der Klinischen Psychiatrie. (Psychiatrie der Gegenwart, Bd. 1/2). Berlin, Heidelberg: Springer, S. 763-852.
Zutt, J. (1969): Die psychiatrische Wissenschaft in heutiger Zeit. In: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie 17, S. 1-12.
Zutt, J. (1970): Freiheitsverlust und Freiheitsentziehung. Schicksale sogenannter Geisteskranker. Mit einem Nachtrag: Freiheitsverzicht und Freiheitsgewinn. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.
Zutt, J. (1972; Hg.): Ergriffenheit und Besessenheit. Ein interdisziplinäres Gespräch über transkulturell-anthropologische und -psychiatrische Fragen. Bern, München: Francke.
Burkhart Brückner, Ansgar Fabri
Zitierweise
Burkhart Brückner, Ansgar Fabri (2015):
Zutt, Jürg.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/60-zutt-juerg
(Stand vom:20.12.2024)