Bleuler, Pauline
1872
Nachname:
Bleuler
Vorname:
Anna Pauline
Epoche:
19. Jahrhundert
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Kunst
Geburtsort:
Zollikon (CHE)
* 01.01.1852
† 01.01.1926
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Klavierlehrerin, Schwester von Eugen Bleuler.

 

Anna Pauline Bleuler (1852-1926) ist die erstgeborene Tochter von Hans Rudolf Bleuler, einem Schweizer Seidenhändler und Landwirt, und seiner Frau Pauline Bleuler. Zusammen mit ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Eugen, dem bekanntesten Schweizer Psychiater des 20. Jahrhunderts, wuchs sie in einer Großfamilie auf einem Gehöft in Zollikon bei Zürich auf.

 

Bleuler war musikalisch und arbeitete nach 1870 als Klavierlehrerin. Um 1872 erlebte sie erstmals schwere psychische Krisen auf dem Hof der Eltern. Später wurde sie dort von einer Pflegerin unterstützt. Behandelt wurde sie in der Kantonalen Irrenanstalt Breitenau (Schaffhausen) und vermutlich 1874 oder 1876 im Züricher Burghölzli. Scharfetter (2006, S. 44) spricht von einem „chronisch kataton-mutistischen“ Verlauf. Zu den frühen oder letzten Lebensjahren ist nichts bekannt, denn die Krankengeschichte fehlt in der Akte.

 

Biographische Quellen

Walter Letsch (2013, S. 250) hat Briefe von Angehörigen untersucht. Bleulers Tante Louise Bleuler berichtete im November 1877 über Probleme: „Dieser Tage hat Pauline … den Spiegel zerschlagen und Fensterscheiben, [hat] Mathilde fortgeschickt: ‚Gang du hei [geh‘ heim], wir brauchen dich nicht‘. Die meiste Zeit hält sich Pauline im Bett auf“. Im Februar 1878 schrieb sie: „Mit Pauline ist es diese Woche wieder besser, es war gar nicht mehr zu ertragen, wie sie böse war; weniger als drei Personen konnten sie nicht speisen oder anziehen, z.B. Vater [Theodor Bleuler] musste ihr die Hände halten, Emilie [Paulines Pflegerin] den Kopf oder die Haare, damit sie nicht beissen konnte, kurz, wenn es dann mit Speien abging, so musste man zufrieden sein. Zweimal warf sie den Nachtstuhl den Fliehenden nach, der aber zerschmetterte und später am Boden angenagelt wurde. Jetzt ist sie wieder ruhiger, sodass Emilie wieder im Zimmer bleiben kann“. Zeitweilig wurde sie von ihrem Bruder Eugen zwangsernährt, der Vater schrieb im März 1878: „Pauline ist auch nicht besser, sie hat einige Zeit nicht essen wollen, da musste man ihr täglich mittelst einer Maschine Milch und Eier durch die Nase in den Magen leiten. Eugen [damals im 3. Semester des Medizinstudiums] hat dieses Experiment von Herrn Dr. Brunner [wohl der Hausarzt] gelernt und seither meisterlich ausgeführt“.

 

Weitere Informationen gab Eugen Bleuler selbst in seiner frühen Arbeit über Zwangsmässige Lichtempfindungen durch Schall und verwandte Erscheinungen auf dem Gebiete der andern Sinnesempfindungen, die er 1881 kurz vor Abschluss seines Studiums zusammen mit seinem Freund Karl Bernhard Lehmann publizierte. Er versuchte, bei sich selbst und in seiner Familie auftretende synästhetische Wahrnehmungen als erbliche, aber gesunde Phänomene nachzuweisen. Er selbst besaß die Gabe, Töne als Farben wahrzunehmen. Seine Schwester stellte er unter insgesamt 596 Befragten als Fall Nr. 75 vor, und zwar als sehr musikalisch gebildet und mit „Vocal- und Wortphotismen. Weiteres unbekannt, da sie zurzeit geisteskrank ist" (zit. nach Apelt-Riel 2009, S. 14). Laut Apelt-Riel leitete Bleuler den Erbgang für die Synästhesien von der Mutter ab, während er für die Schwester zusätzlich eine „nicht näher bezeichnete ‚psychopathische Belastung‘“ seitens des Vaters annahm. Apelt-Riel hält Bleulers These aus heutiger Sicht für nicht haltbar und deutet sie als eine „kompensatorische Abwehr“ - angesichts einer möglicherweise familiär habituellen Angst vor der eigenen heriditären Betroffenheit.

 

Leben im Burghölzli

Gut siebzehn Jahre später, im April 1898, übernahm Bleuler die Direktion des Burghölzli. Die Eltern starben im selben Jahr. Er holte seine Schwester in die Klinik und anschließend in die Dienstwohnung. In dieser Zeit konnte sie der amerikanischen Psychoanalytiker Abraham Arden Brill (1946/1955, S. 24 f.) beobachten, ein Schüler von Adolf Meyer, der ab November 1907 bis Februar 1908 im Burghölzli hospitierte: „When I was in Zurich, Bleuler used to tell us that we could influence even the worst catatonics by suggestion. He gave his own sister as an example. She lived in his home in the hospital, and from my room across the hall I could see her walking to and fro monotonously all day long. Bleuler's children were quite young and they seemed to pay no attention to her presence. When they wanted to climb anywhere they would use her as though she were an inanimate object, like a chair. She emanated no effort and the children had no affective relationship with her. Bleuler once had occasion to move her when she was in an acute state of excitement. He did not want to use force, and he thought he would try suggestion. He told us that he worked on her hour after hour, talking to her and urging her, and at last she dressed and went along with him. Bleuler cited that as evidence that you can do it."

 

Unter den von Brill erwähnten Kindern dürfte sich auch Bleulers 1903 geborener Sohn Manfred befunden haben. Dieser teilte in seinen Publikationen als Nachfolger seines Vaters kaum etwas über die Tante mit (Scharfetter 2006, S. 45), jedoch in Aufzeichnungen, die für die eigenen Kinder bestimmt waren: „Paulines Krankheit äusserte sich später darin, dass sie so gut wie nichts sprach und ganz passiv war, sich aber sonst unter der Betreuung durch eine Leichtkranke der Klinik leicht pflegen liess. Auch sie [Pauline] kam zum Esstisch [der ganzen Familie] und wurde von meinem Vater immer sorgfältig bedient“ (zit. nach Letsch 2013, S. 250; vgl. Joos-Bleuler 2011).

 

Über Anna Pauline Bleulers spätere Lebensjahre ist nichts bekannt. Vermutlich hat ihr Schicksal Eugen Bleulers Berufswahl entscheidend geprägt (vgl. Hell 2001, S. 24 f.). Die Lage als Angehöriger könnte sowohl sein eugenisches Engagement beeinflusst haben als auch seine verstehende Störungslehre und therapeutische Einstellung.

 

 

Literatur

Apelt-Riel, S. (2009): Der Briefwechsel zwischen Ludwig Binswanger und Eugen Bleuler von 1907 - 1939 im Spannungsfeld von Psychoanalyse und Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen.

Bleuler, E., K. H. Lehmann (1881): Zwangsmässige Lichtempfindungen durch Schall und verwandte Erscheinungen auf dem Gebiete der andern Sinnesempfindungen. Leipzig: Fues.

Brill, A. A. (1946): Lectures on psychoanalytic psychiatry. New York: Vintage Books 1955.

Hell, D. (2001): Eugen Bleulers Herkunft, Kindheit und Jugend – Hintergrund für seine Lehre. In: D. Hell, C. Scharfetter, A. Möller (Hg.): Eugen Bleuler – Leben und Werk. Bern: Huber, S. 19–27.

Hell, D. (2012): Herkunft, Kindheit und Jugend. In: R. Mösli (Hg.): Eugen Bleuler – Pionier der Psychiatrie. Zürich: Römerhof, S. 15-28.

Joos-Bleuler, T. (2011): Being a Member of the Bleuler Family. In: Schizophrenia Bulletin 37, (6), S. 1115-1117.

Letsch, W. (2013): Eugen Bleulers Herkunft und Jugendzeit. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 164, (7), S. 236-251.

Scharfetter, C. (2006): Eugen Bleuler 1857-1939. Polyphrenie und Schizophrenie. Zürich: vdf Hochschulverlag..

 

Burkhart Brückner

 

Foto: Unbekannt (Zolliker Jahrheft 2011) / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain]. 

 

Zitierweise
Burkhart Brückner (2015): Bleuler, Pauline.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/57-bleuler-anna-pauline
(Stand vom:17.11.2024)