- Nachname:
- Ricciardi-von Platen
- Vorname:
- Alice
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
21. Jahrhundert - Arbeitsgebiet:
- Medizin
Psychiatrie
Psychoanalyse - Geburtsort:
- Weissenhaus
- * 28.04.1910
- † 23.02.2008
Ricciardi-von Platen, Alice
Deutsch-italienische Psychoanalytikerin und Psychiaterin.
Alice Ricciardi-von Platen (1910-2008), geb. Gräfin von Platen-Hallermund, wurde am 28. April 1910 in Weissenhaus (Holstein) geboren. Die jüngste von drei Schwestern war die Tochter des aus dem Hannoveraner Adelsgeschlecht stammenden Carl Julius Erasmus von Platen-Hallermund (1870-1919) und seiner Frau Elisabeth Karoline Friederike, geb. von Alten (1875-1970) (Köttgen 2008, S. 40).
Aufgewachsen zwischen Holstein, England, St. Petersburg, Den Haag und Berlin besuchte sie nach dem frühen Tod ihres Vaters ab 1922/23 die damals neu gegründete Internatsschule Schloss Salem (Schlüter 2012, S. 8). Der dortige Direktor Kurt Hahn (1886-1974) vertrat ein reformpädagogisches Klima und eine Erziehung zu Demokratie und Verantwortung. Nach einer eher wechselhaften Kindheit bot ihr das Internat Ideale, Vorbilder und eine verlässliche Struktur in einer Gemeinschaft (Schlüter 2012, S. 42). Von dort aus besuchte sie auch die psychiatrische Anstalt in Reichenau. Aus ihrer Schulzeit rührte ihre Verbundenheit zu Golo Mann (1909-1994) und Marion Gräfin Dönhoff (1901-2002).
Studienjahre und Exil in Italien
Nach dem Abitur im März 1928 verließ sie Anfang 1929 Berlin und studierte ab dem Wintersemester 1929/30 Medizin in Heidelberg, München, Freiburg, Kiel und Königsberg. Ihr praktisches Jahr absolvierte sie am Städtischen Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Berlin-Lichterfelde. Im Juni 1934 schloss sie ihr Medizinstudium in München ab; im Februar 1936 erhielt sie ihre Approbation.
Am 3. Juni 1935 begann sie ihre Tätigkeit an der Potsdamer Landesheilanstalt, deren Leiter der später an „Euthanasie“-Maßnahmen maßgeblich beteiligte Kinder- und Jugendpsychiater Hans Heinze (1895-1983) war. Aus Protest gegen die Behandlung der Patienten meldete sie sich an ihrer Berliner Stelle 1936 krank und kündigte ihre Stelle von München aus, nachdem sie ihre Approbationsurkunde erhalten hatte (Weindling 2003, S. 81 f.). Bis 1939 lebte sie in Florenz, dann in Rom (bis 1940) in engem Kontakt mit intellektuellen künstlerischen Kreisen.
Parallel holte sie wochenweise in München fehlende Praktika nach (Schlüter 2012, S. 76) und promovierte in Berlin zu Beobachtungen zur Frage der nutritiven Allergie (von Platen-Hallermund 1938). 1940 lernte sie im Haus des Archäologen Ludwig Curtius (1874-1954) dessen Kollegen Ernst Homann-Wedeking (1908-2002) kennen und ging eine Beziehung mit ihm ein. Eine Heirat mit dem bürgerlichen Homann-Wedeking kam trotz ihrer Schwangerschaft nicht in Frage. Nach der Geburt ihres Sohnes Georg Ernst von Platen-Hallermund (1941-2009) in Radolfzell am Bodensee ging sie zunächst zurück nach München. Sie zog es vor, für sich und ihren Sohn eigenständig zu sorgen. So war sie 1942 bis 1945 als Landärztin zuerst in Bayern, dann in Pettenbach in Oberösterreich tätig. In ihrer Tätigkeit erfuhr sie von den systematischen Patiententötungen in Hartheim-Linz und Transporten ins Konzentrationslager Mauthausen (Sörgel 1996, S. 1).
Nachkriegszeit und Nürnberger Ärzteprozess
Nach Kriegsende wurde Alice von Platen-Hallermund Volontärassistentin an der Psychosomatischen Klinik an der Universität Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker (1886-1957) (Ricciardi-von Platen 2008, S. 58). Auf dessen Vermittlung hin wurde sie von seinem wissenschaftlichen Assistenten Alexander Mitscherlich (1908-1982) in die Kommission berufen, die für die deutschen Ärztekammern von Dezember 1946 bis August 1947 den Nürnberger Ärzteprozess beobachtete (Weindling 2001 S. 326). Der Ärzteprozess war der erste der so genannten Nachfolgeprozesse, die auf den Nürnberger Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches“ folgten. Einer der Hauptanklagepunkte des I. Amerikanischen Militärgerichtshofes gegen die zwanzig führenden Ärzte (davon sieben SS-Ärzte) und drei hohe Beamte waren „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Der Ärztekommission gehörten an: ihr Leiter Alexander Mitscherlich (1908-1982), der Heidelberger Arzt Wolfgang G. Benstz (geb. 1914), Alice von Platen-Hallermund, der Medizinstudent Fred Mielke (1922-1959), der Nervenarzt Wolfgang Spamer sowie der Arzt Friedrich Jensen (Peter 1998, S. 58; Peter 2015, S. 32). Spamer und Jensen schieden aus der Kommission mit Beginn des Jahres 1947 aus. Vom 15. Februar 1947 an bestand die Gruppe aus der ständigen Arbeitsgemeinschaft von Mitscherlich, von Platen-Hallermund und Mielke. Von Platen-Hallermund war bei allen Prozesstagen in Nürnberg präsent. Als die Urteile gegen die 23 Angeklagten verkündet wurden, war aus dem Kreis der Ärztekommission nur Fred Mielke anwesend (Schlüter 2012, S. 146). Mit dem Urteil vom 20. August 1947 wurden sieben Todesurteile ausgesprochen (Karl Brandt, Rudolf Brandt, Viktor Brack, Karl Gebhardt, Joachim Mrugowsky, Wolfgang Sievers, Waldemar Hoven), neun Haftstrafen (lebenslang: Siegfried Handloser, Karl Genzken, Gerhard Rose, Fritz Fischer, Oskar Schröder; 20 Jahre: Hermann Becker-Freyseng; 15 Jahre: Wilhelm Beiglböck; 10 Jahre: Herta Oberheuser, Helmut Poppendick) sowie sieben Freisprüche (Paul Rostock, Konrad Schäfer, Wolfgang Romberg, Siegfried Ruff, Georg August Weltz, Kurt Blome, Adolf Pokorny) (vgl. von Platen 1948, S. 48).
Auch bei den sog. „Euthanasie“-Prozessen, die vor dem Frankfurter Landgericht zwischen 1946 und 1948 verhandelt wurden, war von Platen-Hallermund als Beobachterin anwesend. So nahm sie im Januar 1947 am sog. Kalmenhof-Prozess sowie am Hadamar-Prozess in Frankfurt teil (Weindling 2001, S. 328).
Publikationen: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland
In Nürnberg nahm Alice von Platen-Hallermund Kontakt zum Soziologen und Publizisten Eugen Kogon (1903-1987) auf, der die Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald überlebt und als Zeuge der Anklage für die Fleckfieberversuche im Nürnberger Ärzteprozess ausgesagt hatte (Sörgel 1996, S. 2). Als von Platen-Hallermund unabhängig von Mitscherlich die Medizinverbrechen analysierte und eigenständig publizieren wollte, geriet sie in einen heftigen Konflikt mit Mitscherlich, der eine geplante Publikation unter seinem Namen sehen wollte. Er erinnerte sie daran, dass sie in der Kommission unter seiner Leitung arbeite und drohte, ihre Stelle anderweitig zu besetzen: „Was die literarische Verwendung betrifft, so möchte ich Sie daran erinnern, daß Sie die Arbeit in meinem Auftrag durchgeführt haben und von der Ärztekommission dafür bezahlt wurden. Ich habe mich neulich schon über Ihre selbständigen Verhandlungen mit Kogon gewundert.“ (Schreiben Mitscherlich an von Platen-Hallermund am 27. Oktober 1947, AMA, II 2/115.4, in: Weindling 2003 S. 81 f.)
Am 7. Dezember 1947 legte von Platen-Hallermund das fertige Manuskript ihres Berichtes Mitscherlich vor. Noch vor Weihnachten konnte sie das von Alexander Mitscherlich gegengelesene Manuskript zum abschließenden Lektorat senden.
Kogon war seit 1946 Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, die der Demokratisierung Deutschlands eine Plattform bieten sollten. In dieser Reihe erschien von Platen-Hallermunds Buch Die Tötung Geisteskranker in Deutschland im Juli 1948 in einer Auflage von 3.000 Stück. Von diesen Exemplaren verschwanden die meisten aus dem öffentlichen Verkehr, nur etwa zwanzig Bände blieben in Bibliotheken erhalten. Die medizinische Fachpresse wie die allgemeine deutsche Presse war an einer Berichterstattung über den Prozess wenig interessiert (Sörgel 1996 S. 2), was von Platen-Hallermund kommentierte: „… die medizinischen Zeitschriften wollen anscheinend ungern ihren Platz für solche unangenehmen Berichte hergeben.“ (Schreiben von Platen-Hallermund an Mitscherlich am 10. Januar 1947, AMA, II 2/115.1, in: Peter 1998, S. 60). Wie auch der Bericht von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke von 1947 mit dem Titel Das Diktat der Menschenverachtung wurde ihr Buch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Weiter berichtete von Platen-Hallermund (1947; 1947a; 1948; Platen-Hallermund, Mitscherlich & Mielke 1947) über die Nürnberger Ärzteprozesse in vier Artikeln in der Fachzeitschrift Hippokrates, ebenso Mielke (1947) im Bayerischen Ärzteblatt. Von der deutschen Ärzteschaft erfuhren die Publikationen herben Widerstand; insbesondere von Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) und Hermann Rein (1898-1953). Diesen Widerstand erfuhr auch Werner Leibbrand als einziger deutscher Sachverständiger der Anklage (Seidel 2012, S. 60; Seidel & Söhner 2016).
Ab Oktober 1947 hatte von Platen-Hallermund eine bezahlte Stelle in der Nervenklinik St. Getreu in Bamberg als Assistenzärztin bei dem Psychiater und Klinikdirektor Georg Zillich (1911-1950), der gegenüber der Psychoanalyse sehr aufgeschlossen war und von Platen-Hallermund förderte.
Als Reaktion auf das Erscheinen ihres Buches erwirkte der Historiker und Freund aus der Florenzer Zeit Nicolai Rubinstein (1911-2002) eine Einladung zum International Congress on Mental Health (vom 16. bis 21. August 1948) in London (Ricciardi-von Platen 2004 S. 58). Platen-Hallermund war die einzige Frau in der deutschen zwanzigköpfigen Delegation. Ihr Bericht, der in der psychoanalytischen Zeitschrift Psyche erschien, eröffnete dem deutschen Fachpublikum Einblick in die Inhalte und Abläufe des Kongresses (vgl. Platen-Hallermund 1949). Durch die Unterstützung von Anna Freud (1895-1982) und der Schirmherrin des „Mental Health“-Kongresses Lady Florence Priscilla Norman (1881-1964) erhielt sie das Versprechen für ein Stipendium in England (Brody 1998, S. 305; Schlüter 2012, S. 155).
Karriere als Gruppenanalytikerin
Nach Ablauf ihres Vertrags in Bamberg ging von Platen-Hallermund 1949 in Absprache mit Zillich nach London zur psychoanalytischen Weiterbildung, um nach deren Abschluss als Oberärztin Zillich nach Würzburg zu folgen. Mit dem überraschenden Unfalltod von Zillich im August 1950, der den Ruf bereits angenommen hatte, zerschlugen sich die Pläne einer beruflichen Rückkehr in die Heimat. Von Platen-Hallermund blieb für mehrere Jahre in London (Schlüter 2012, S. 11).
Statt des versprochenen Stipendiums erwartete sie nur eine Arbeitsgenehmigung und eine Interimsstelle im Shenley Hospital. Ab Februar 1950 praktizierte sie in einer psychotherapeutischen Eheberatungsstelle bei Michael Balint (1896-1970) sowie verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. Inspiriert von der Idee, dass der Mensch sich als soziales Wesen, als Angehöriger einer Gruppe definiert, befasste sie sich mit der Gruppenanalyse (vgl. Winkelmann 2005, S. 5).
Im April 1950 lernte sie den italienischen Aristokraten und freien Mitarbeiter des Corriere della Sera und der BBC Augusto Baron Ricciardi (1915-1982) kennen. Nach langjähriger verwickelter Beziehung heiratete sie Ricciardi am 29. Dezember 1956 am österreichischen Landsitz ihrer Familie in Altausee und begleitete ihn auf seinen beruflichen Aufenthalten nach Brüssel und Tripolis. Ab 1967 war Alice Ricciardi-von Platen als Psychoanalytikerin in Rom tätig, sowie nach dem Tod ihres Mannes in Cortona, in der Toskana.
1972 wurde sie von Siegmund Heinrich Foulkes (1898-1976) beim zweiten Gruppenanalytischen Sommer-Symposium in London gefragt, ob sie gemeinsam mit der Group Analytic Society (Gesellschaft für Gruppenanalyse, London), regelmäßig Workshops in London zum gruppentherapeutischen Ansatz von Foulkes einrichten möchte. Der erste Workshop der Reihe fand im Januar 1973 statt.
1975 war Ricciardi-von Platen die erste Gruppenanalytikerin Italiens. 1976 gründete sie mit Michael Hayne (geb. 1937) und Josef Shaked (geb. 1929) die Internationale Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse (IAG) in Altausee (Österreich) und richtete einen zweimal jährlich stattfindenden Selbsterfahrungs- und Fortbildungs-Workshop ein. Im Frühjahr 1976 fand in Altausee der erste Workshop der IAG statt (Schlüter 2012, S. 189). 1982 war sie Mitgründerin des Centro Italiano Gruppo Analisi in Rom. Fortan lud sie regelmäßig ein zu Workshops für Gruppenanalyse in die Villa Platen in Altausee (Seidl 2000, S. 141). 1997 reiste Ricciardi-von Platen noch mit 87 Jahren in die Ukraine, um an der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiew eine gruppenanalytische Ausbildung zu gründen (Seidl 2000, S. 145).
Späte Anerkennung in Deutschland
Erst spät erhielt Alice Ricciardi-von Platen internationales Ansehen, nachdem ihre Tätigkeit als Mitglied der Beobachterkommission beim Nürnberger Ärzteprozess bekannt wurde. Durch das Engagement des Sozialpsychiaters Klaus Dörner wurde ihr Buch zu den Patientenmorden 1993 neu entdeckt, wieder aufgelegt und in Deutschland in den neunziger Jahren neu rezipiert. Das Reprint ihres Bandes sowie ihr Ehrenvorsitz beim Nürnberger IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“ 1996, sorgten für eine späte Anerkennung. Im August 1997 suchte sie der Medizinhistoriker Paul Weindling in Cortona auf, um sie zu ihren Erfahrungen in Nürnberg zu befragen (vgl. Weindling 2004).
Als Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung erhielt sie 1997 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und 2000 die Ehrenbürgerschaft von Cortona. Vom 1. bis 3. November 2007 war Ricciardi-von Platen Ehrengast der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie in München und sprach dort mit dem Sozialpsychiater Michael von Cranach auf dem Podium zu den Entwicklungen der psychiatrischen-psychoanalytischen Versorgung im 20. Jahrhundert (Seidel 2012). Dort lud sie die Teilnehmer noch zu ihrem Kongress in Rom ein – geplant im Mai 2008 (Köttgen 2008 S. 41). Bis zuletzt pflegte sie Kontakte zu Akteuren der deutschen Sozialpsychiatrie wie Charlotte Köttgen, Thomas Bock, Niels Pörksen und Klaus Dörner (Köttgen 2008, S. 41). Am 23. Februar 2008 ist Alicia Ricciardi-von Platen in Cortona (Italien) gestorben.
Gesellschaftliches Engagement und medizinethische Positionen
In der Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses befasste von Platen-Hallermund sich mit der Unmenschlichkeit der NS-Medizin am Beispiel der Morde an Patienten der Psychiatrie. Anhand der Materialien zum Nürnberger Ärzteprozess und den Frankfurter Euthanasie-Prozessen fertigte sie mehr als nur einen Bericht zu den während des Prozesses offen gelegten Verbrechen.
Während Mitscherlichs und Mielkes (1947) Bericht vor allem auf der Dokumentation der medizinischen Verbrechen und rechtlich-politischen Fragen des Prozesses lag („daß die Autoren ausschließlich Dokumente, Zeugenaussagen und Berichte sprechen lassen“; von Platen-Hallermund 1947a, S. 82), widmete sich von Platen-Hallermund auch den Wurzeln und gedanklichen Voraussetzungen der Patientenmorde, analysierte die Rolle und Verantwortung der Ärzte und beachtete auch das Leiden der Opfer und bezog Interpretationsansätze und Tätermotive mit ein (Weindling 2001, S. 328). In ihrem Aufsatz in Hippokrates urteilte sie: „Die Anonymität der Organisation nahm ihren Mitgliedern das Gefühl für die Verantwortung am Tode von Millionen menschlicher Lebewesen.“ (von Platen-Hallermund 1947, S. 30).
Im Vorwort ihres Berichts schrieb sie: „In der Wirklichkeit sind die bedauernswerten ‚Menschenhülsen‘, die aus Mitleid von ihren Qualen erlöst werden müssen, nicht zu finden. Sie sind eine Fiktion des biologischen Utilitarismus, für den der Kranke, der nicht arbeitet, kein Mensch ist.“ (von Platen-Hallermund 1948/2006, S. 8). Nach von Platen-Hallermunds Meinung war ein biologistisches Denken, das manche Leben als „lebensunwert“ darstellte, verantwortlich für die sog. „Euthanasie“: „Jede Etappe der Entwicklung folgt logisch aus der vorhergehenden: Wenn es erlaubt ist, Leben anzutasten, ist keine Grenze zu ziehen. Man hat den Eindruck, daß die ärztlichen Urheber des Euthanasieprogramms selber vor den Folgen ihres Tuns erschraken und die Augen vor ihnen schlossen.“ (von Platen-Hallermund 1947, S. 31).
Weiter würdigte sie den, falls vorhanden, passiven Widerstand von Angehörigen der Kirchen und des Anstaltspersonals (Sörgel 1996, S. 2; Schlüter 2012, S. 151). Sie stellte den Gedanken der Mitmenschlichkeit und die Achtung des „Andersartigen“ ins Zentrum des medizinischen und gesellschaftlichen Handelns.
Auch in ihrer späteren Arbeit setzte sich die Wegbereiterin der Gruppenpsychoanalyse konsequent für einen wertschätzenden Umgang mit psychisch kranken Menschen ein (Schlüter 2012). Zu ihrem 90. Geburtstag wurde sie als eine „mutige Aufklärerin und Mahnerin vor den Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geehrt (Seidl 2000, S. 143). Von Platen-Hallermund sah ihren Auftrag als beobachtendes Mitglied bei den Nürnberger Ärzteprozessen darin, vorbehaltlos zu berichten: „wir wollten die ganze Ärzteschaft Deutschlands aufklären über das, was passiert ist. Wir haben das als ausgesprochen moralische und politische Aufgabe verstanden.“ (von Platen-Hallermund, in: Sörgel 1996 S. 1).
Literatur
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Köttgen, C. (2008): Eine Zeitzeugin – ein Vorbild: Alice von Platen war mit fast 98 Jahren noch voller Pläne. In: Soziale Psychiatrie 3/2008, S. 40-41.
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Platen-Hallermund, A. von (1947a): Ärzteprozess Nürnberg. II. Verteidigung. In: Hippokrates 18, S. 199-202.
Platen-Hallermund, A. von (1948): Ärzteprozess Nürnberg. III. Urteil. In: Hippokrates 18, S. 48-49.
Platen-Hallermund, A. von (1948/2006): Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. 6. Aufl. Frankfurt: Mabuse.
Platen-Hallermund, A. von (1949): Berichte über den „International Congress on Mental Health“. In: Psyche 3, S. 462-480.
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Felicitas Söhner
Foto: Unbekannt; family album of Jan Velterop / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain].
Zitierweise
Felicitas Söhner (2017):
Ricciardi-von Platen, Alice.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/266-ricciardi-von-platen-alice
(Stand vom:20.12.2024)