Freud, Anna
Paris 1957
Nachname:
Freud
Vorname:
Anna
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Psychoanalyse
Psychotherapie
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Geburtsort:
Wien
* 03.12.1895
† 09.10.1982
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Psychoanalytikerin, Mitbegründerin der Kinderanalyse. 

 

Anna Freud (1895-1982) wurde in Wien geboren. Sie ist die jüngste Tochter des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Schlomo Freud (1856-1939), und seiner Frau Martha Bernays. Anna Freud hat die wissenschaftlichen Konzepte ihres Vaters auf das bis dato wenig erforschte Gebiet der Kinderanalyse erweitert. Sie ist damit die Einzige unter den Geschwistern, die die Arbeit ihres Vaters weitergeführt hat (Aichhorn 2016, S. 22). 

 

Schon als Jugendliche verfasste Anna Freud (2014) Lyrik und literarische Prosa. Nachdem sie zunächst eine Ausbildung als Lehrerin angestrebt hatte, gab sie diese Laufbahn um 1920 zugunsten ihrer wissenschaftlichen Interessen auf. 1922 hielt sie ihren ersten psychoanalytischen Vortrag und seit 1926 beteiligte sie sich an der Herausgabe der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. Sie vertrat den Standpunkt, dass Kindertherapeuten insbesondere den erzieherischen Auftrag haben, die Eltern von verhaltensgestörten Kindern anzuleiten und mit diesen zusammenzuarbeiten (Freud 1927/1973, S. 7). Ihre psychoanalytische Ausbildung erhielt sie in Wien, die Lehranalyse absolvierte sie bei ihrem Vater. Zwischen 1927 und 1934 war sie Generalsekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) und von 1935 bis 1938 Direktorin des Psychoanalytischen Instituts in Wien (Spreitzer 2014, S. 347). In den 1920er Jahren lernte Freud in Wien die Pädagogin und spätere Analytikerin Dorothy Tiffany Burlingham (1891-1979) kennen und baute mit ihr eine lebenslange Freundschaft und Partnerschaft auf.

 

Im Juni 1938 musste Anna Freud nach der nationalsozialistischen Okkupation mit ihrer Familie Österreich verlassen. Sie emigrierten nach London, wo ihr Vater 1939 starb (Krapp 2005, S. 170). In London wurde Freud mit abweichenden Ansichten zur Psychoanalyse konfrontiert, weshalb die erste Zusammenarbeit mit der Londoner Vereinigung von kollegialen Auseinandersetzungen geprägt war (Aichhorn 2016, S. 38). Prägend war dabei insbesondere die Kontroverse zwischen Freud und der britischen Analytikerin Melanie Klein (1882-1960).

 

Trotz ihres großen Interesses an Kindern und der kindlichen Entwicklung hatte Anna Freud keine eigenen Kinder und war nicht verheiratet. In ihren letzten Lebensjahren setzte sie sich dafür ein, dass die Grundsätze der kinderanalytischen Forschung im Rechtswesen angewendet werden. In Zusammenarbeit mit Joseph Goldstein (1923-2000), einem Juristen und Kinderpsychiater, erstellte sie unter anderem Richtlinien zum Sorgerecht und der Unterbringung von Kindern (Aichhorn 2016, S. 46). 

 

Aufbauarbeit in London

In London gründete Anna Freud (1972, S. 77) die Hampstead Nurseries, die sie von 1940 bis 1945 leitete. In diesem Heim konnten Londoner Kriegskinder und -waisen unterkommen, um sich vor den Bombenangriffen zu schützen. Freud und ihre Mitarbeiterinnen versuchten, das Heimleben möglichst kindgerecht und geschützt vor den Kriegseinwirkungen zu gestalten. Während der Arbeit in den Hampstead Nurseries beobachtete Freud die frühkindliche Entwicklung der Kinder und stellte sie der Entwicklung von Kindern gegenüber, die bei ihren Eltern aufwuchsen. Ihre dabei gesammelten Erfahrungen bildeten den Ausgangspunkt des 1947 gegründeten Hampstead Child-Therapy Course, der seitdem als eines der bekanntesten Ausbildungsgänge für Kinderpsychotherapeuten gilt (Freud 1973, S. 8). Ab 1951 fanden die Kurse im Rahmen der von Freud geleiteten Hampstead Child Therapy Clinic in London statt. Zudem arbeitete sie weiterhin als praktizierende Analytikerin und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten über Kinderpsychologie und Kinderpsychotherapie.

 

Freud (1972, S. 78) war Mitglied der British Psychoanalytic Society und wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem erhielt sie 1968 die Ehrendoktorwürde auf dem Gebiet des Familienrechts von der Yale University (USA). 

 

Das Hampstead Child-Therapy Course und die Hampstead Child Therapy Clinic

Zu den Aufgabenbereichen des Hampstead Child-Therapy Course gehörte die Ausbildung samt Therapie und Forschung (Freud 1980, S. 1627). Der erste Ausbildungskurs wurde 1947 angeboten und richtete sich an Studierende mit einem Universitätsabschluss in Psychologie. Die Seminare wurden von Mitgliedern der Britischen Psychoanalytischen Vereinigung angeboten. 1951 wurde die Hampstead Child Therapy Clinic an die bestehenden Hampstead Child-Therapy Courses angegliedert. Dort wurden Therapien von analytischen Kindertherapeuten und fortgeschrittenen Auszubildenden durchgeführt. Die Forschung richtete sich auf fallspezifische Fragestellungen, die sich innerhalb der eigenen Einrichtung ergaben. Diese wurden sowohl von dem Lehrpersonal als auch von den Studierenden bearbeitet (Freud 1980, S. 1628). An der Hampstead Child Therapy Clinic wurden unterschiedliche Berufsgruppen ausgebildet, die zuvor noch keine psychoanalytische Ausbildung durchlaufen hatten. Anna Freud organisierte damit das erste Institut, an dem die Ausbildung für Erwachsenenanalyse keine Zugangsvoraussetzung für die kinderanalytische Ausbildung darstellte (Holder 2002, S. 33). 

 

Theorie und Praxis: Konzepte der Kinderanalyse

Sigmund Freuds triebpsychologische Konzepte zielten auf die Erforschung des unbewussten Seelenlebens. Triebregungen, Affekte und Phantasien standen im Mittelpunkt und die Interaktion von Individuum und Umwelt trat in den Hintergrund. Anna Freud richtete demgegenüber ihr Interesse insbesondere auf die Psychologie des Ichs. In der Psychoanalyse ist es die Aufgabe der Analytiker und Analytikerinnen Unbewusstes bewusster erlebbar werden zu lassen. Nach Anna Freud (1984, S. 37) sollte die Aufmerksamkeit wertneutral auf alle drei Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) gleichermaßen gerichtet sein. Auf die neutrale Haltung innerhalb der analytischen Tätigkeit könnten dann unterschiedliche Reaktionen der drei Instanzen beobachtet werden. Die Triebregungen des Es würden verstärkt, zeitgleich werde die Arbeit der Ich-Instanzen und die Bewältigung der Triebe beeinflusst. Abwehrhaltungen, die das Ich normalerweise gegen die Tätigkeiten des Es gerichtet habe, würden im analytischen Kontext gegen die Analytiker und Analytikerinnen gerichtet. Die unbewussten Abwehrtätigkeiten des Ichs könnten dadurch bewusster und sichtbar(er) werden (Freud 1984, S. 38 ff.).

 

Anna Freuds 1936 publizierter Band Das Ich und die Abwehrmechanismen ist ein Klassiker der psychoanalytischen Literatur. Sie beobachtete, wie das Ich die Abwehrmechanismen gegen Affekte einsetze, die an Triebimpulse gebunden seien. Das Ich präferiere innerhalb verschiedener Lebensphasen verschiedene Abwehrmechanismen. Dazu gehören unter anderem Verdrängung, Verschiebung und Verkehrung ins Gegenteil (Freud 1984, S. 40). Ein weiteres Themenfeld, mit dem Freud sich innerhalb dieses Kontexts beschäftigt hat, sind die permanenten Abwehrerscheinungen, die zu beständigen Charakterzügen führen könnten. Diese könnten wieder gelöst werden, wenn es den Analytikern und Analytikerinnen gelingt, den Ursprung der Abwehr zu finden und zu thematisieren (Freud 1984, S. 41 ff.). Auch die neurotische Symptombildung Aufschlüsse über die Abwehrtätigkeiten, da es feste Beziehungen zwischen bestimmten Neurosen und Abwehrmechanismen gebe (Freud 1984, S. 42). 

 

Bei der freien Assoziation in der analytischen Praxis fordern Analytiker und Analytikerinnen die Patienten und Patientinnen auf, alle Einfälle zu äußern, also möglichst das Ich außer Acht zu lassen und unbewussten Impulsen und Phantasien zu folgen. Bei der Kinderanalyse fällt diese freie Assoziation weg. Laut Anna Freud zeigen sich jedoch infantile Es-Regungen im kindlichen Spiel, bei Träumen und Tagträumen oder in Zeichnungen. Freud (1984, S. 45 f.) behauptete, dass die Spielanalyse die freie Assoziation im frühen Kindesalter am besten ersetzt. Spielstörungen würden den Anteil der Ich-Abwehr repräsentieren und die ungestörte Spielhandlung zeige freie Einfälle auf. Freud (1973, S. 35 ff.) berichtete, dass die Kinder gerne Auskünfte über ihre Träume gaben und stolz auf gelungene Traumdeutungen waren. In ihren Publikationen beschreibt Anna Freud zahlreiche Beispiele von Kinderträumen und ihr analytisches Vorgehen. 

 

Auszeichnungen

1967: Commander of the British Empire,

1975: Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.

 

Literatur

Aichhorn, T., M. Conci, W. Mertens (2016, Hg.): Anna Freud (1895-1982) – Die Pionierin der Kinderanalyse (Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen). Stuttgart: Kohlhammer. 

Edgcumbe, R. (2000): Anna Freud. A view of development, disturbance and therapeutic techniques. London: Taylor & Francis. 

Ermann, M. (2008): Psychoanalyse in den Jahren nach Freud. Entwicklungen 1940–1975. Stuttgart: Kohlhammer (2. Auflage 2012). 

Freud, A. (1936): Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt am Main: Fischer 2012. 

Freud, A. (1972): Schwierigkeiten der Psychoanalyse in Vergangenheit und Gegenwart. Die Sigmund Freud Vorlesungen. Frankfurt am Main: Fischer.

Freud, A., Bergmann T. (1972): Kranke Kinder. Ein psychoanalytischer Beitrag zu ihrem Verständnis. Frankfurt am Main: Fischer. 

Freud, A. (1927/1973): Einführung in die Technik der Kinderanalyse. München: Kindler. 

Freud, A., Watson, H. (1980): Die Schriften der Anna Freud, 2: 1939-1945: Kriegskinder. München: Kindler. 

Freud, A., Watson, H. (1980): Die Schriften der Anna Freud, 3: 1939-1945: Anstaltskinder. München: Kindler. 

Freud, A., Watson, H. (1980): Die Schriften der Anna Freud, 6: 1956-1965: Forschungsergebnisse aus der Hampstead Child-Therapy Clinic und andere Schriften. München: Kindler.

Freud, A. (2014): Gedichte. Prosa. Übersetzungen. Hg. v. B. Spreitzer. Wien, Köln: Böhlau.

Holder, A. (2002): Psychoanalyse bei Kindern und Jugendlichen. Geschichte, Anwendung, Kontroversen. Stuttgart: Kohlhammer. 

Krapp, K. (2005): Psychologists & Their Theories for Students. Detroit: Thomason Gale. 

Spreitzer, B. (2014): Anna Freud. Gedichte – Prosa – Übersetzungen. Wien: Böhlau. 

Young-Bruehl, E. (1988): Anna Freud. A Biography. New Haven: Yale University Press 2008. 

 

Ina Hackl

 

Foto: Dutch National Archive, Sig. 923-9360 / Public domain; Quelle: Wikimedia / Lizenz: CC0 1.0 

 

Zitierweise
Ina Hackl (2022): Freud, Anna.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/299-freud-anna
(Stand vom:28.03.2024)