Nachname:
Wendenburg
Vorname:
Paul Friedrich
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Sozialpsychiatrie
Soziale Arbeit
Geburtsort:
Berlin (DEU)
* 29.05.1888
† 25.12.1967
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Stadtmedizinalrat in Gelsenkirchen und Vertreter der offenen Fürsorge".

 

Friedrich Wendenburg (1888-1967) wurde als Sohn eines Schuldirektors in Berlin-Köpenick geboren. Nach dem Abitur studierte er Medizin und erhielt 1913 die Approbation. Anschließend absolvierte er eine Facharzt-Ausbildung für Kinderkrankheiten und Psychiatrie in der Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn (Lippstadt, Kreis Soest). 1914 heiratete er in Breslau Marie Schwarz. Sie brachten zwei Kinder zur Welt, Ruth (1916) und Karl-Friedrich (1921). 1919 erhielt er die Leitung des neuen Gesundheitsamtes Gelsenkirchen und wurde Stadtrat für das Gesundheits- und Wohlfahrtswesen (Goch 2000). Wendenburg engagierte sich für lokale Gesundheitsfürsorge (Kinder und Jugendliche, Familien, Tuberkulosekranke, Psychiatrie) und war teils international tätiger Funktionär in mehreren gesundheitspolitischen Organisationen (Labisch & Tennstedt 1985).

 

Gelsenkirchener System

In der Weimarer Republik entstanden im Bereich der Psychiatrie neben der Fürsorge für „Trinker“, „Nervenschwache“ oder „Psychopathen“ auch Systeme „offener Fürsorge“ zur Ergänzung der Anstaltsbehandlung. Gustav Kolb (1919) entwickelte ein bayerisches Modell in Erlangen, Wendenburg in den zwanziger Jahren das „Gelsenkirchener Modell“ im Ruhrgebiet und Rheinland (Schmiedebach 2004, S. 450). Während Kolbs System an die Anstalten angebunden war und Pflegekräfte zur Fürsorge nutzte (vgl. Brückner 2015, S. 24 f.), zielte Wendenburg (1931, S. 135) auf die „völlige Einbeziehung einer für die in Frage kommenden Krankheitsgruppen errichten Fürsorgestelle in die übrige Gesundheitsfürsorge“. Sein Ansatz setzte somit auf „rein kommunale Fürsorge“ und fast ähnliche Prinzipien wie die öffentliche Seuchenkontrolle. Nach zwei Tagungen der von Wendenburg gegründeten „Kommunalen Vereinigung für Gesundheitsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ im Juni und November 1920 wurde 42 Fürsorgestellen in allen Stadt- und Landkreisen eingerichtet, um „Geisteskranke“ und „Geistesschwache“ ambulant zu versorgen (Reinicke 1998, S. 204).

 

Die Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst nach dem Gelsenkirchener Modell der offenen psychiatrischen Fürsorge besaßen unter anderem präventive („sozialhygienische“) und rehabilitative Aufgaben, um den Wiedereingliederungsprozess mit Sprechstunden, Hausbesuchen und Nachsorge zu unterstützen „oder wenigstens zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit“ beizutragen (Wendenburg 1931, S. 136). Sie konzentrierten sich auf die Erfassung und „Überwachung“ der Betroffenen und ihre Beratung, die Anstaltsaufnahmeverfahren, die Nachsorge, die Korrespondenz mit der Anstalt und die „Beeinflussung“ der Angehörigen (Wendenburg 1931, S. 136 f). Bis 1927 verbreitete sich das Modell in 33 rheinische Städte und 10 Landkreise. Die 1924 verordnete staatliche Fürsorgepflicht sowie die entstandenen Fürsorgeverbände unterstützten die Implementierung dieser Strukturen (Wetzel 1931, S. 132 ff.). Wendenburg war Vorsitzender des Deutschen Vereins der ärztlichen Kommunalbeamten und wurde 1926 gesundheitspolitischer Berater des Deutschen Städtetags.

 

Nach 1933

Ab 1927 leitete Wendenburg die internationale Hygienekommission des Völkerbundes. Nach der Machtübernahme des NS-Regimes trat er 1937 der NSDAP bei und fungierte bis 1941 als Leiter des Dezernats für Fürsorge und Gesundheitswesen. Die Erfassung der Daten und die ausgebauten Strukturen der Gesundheitsdienste erleichterten ab 1933 die Selektion und Verfolgung von Personengruppen. Wendenburgs (1933) Rolle dabei scheint historisch noch nicht detailliert beschrieben worden zu sein. 1941 zog er mit seiner Familie nach Breslau und wurde Beigeordneter des Breslauer Wohlfahrtswesens sowie Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Wohlfahrtspflege in Schlesien. Als einziger Stadtrat überlebte er im 2. Weltkrieg die Belagerung Breslaus, polnische und sowjetische Instanzen beauftragten ihn mit dem Wiederaufbau. Als Sonderbeauftragter für den Wiederaufbau (Labisch & Tennstedt 1985, S. 511) ging er ab Juli 1946 wieder nach Gelsenkirchen und ab Juni 1953 nach Kassel. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er als Mitläufer eingestuft. Friedrich Wendenburg starb 1967 in Kassel (Goch 2000).

 

Auszeichnungen

1965: Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

 

Literatur

Brückner, B. (2015): Geschichte der psychiatrischen Sozialarbeit in Deutschland im 20. Jahrhundert –  ein Überblick. In: M. Dörr (Hg.): Sozialpsychiatrie im Fokus Sozialer Arbeit.  Hohengehren, Battmannsweiler: Schneider, S. 21-32.

Goch, S. (2000): Dokumentationsstätte "Gelsenkirchen im Nationalsozialismus". Katalog zur Dauerausstellung. (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte, Materialien, Bd. 5). Essen: klartext.

Labisch, A., F. Tennstedt (1985): Der Weg zum „Gesetzüber die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland. Teil 2. Düsseldorf: Akademie für öffentliches Gesundheitswesen.

Reinicke, P. (1998): Soziale Krankenhausführung in Deutschland. Von den Anfänge bis zum Ende des zweiten Weltkriegs. Opladen: Leske + Budrich.

Reinicke, P. (1998): Differenzierung nach Krankheitsbildern und Krankenhausträgern. In: P. Reinicke (Hg.): Soziale Krankenhausführung in Deutschland. Von den Anfänge bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, S. 187-239.

Schmiedebach, H.-P., S. Priebe (2004): Social Psychiatry in Germany in the Twentieth Century. Ideas and Models. In: Medical History, 48, (4), S. 449-472.

Wendenburg, F. (1927): Die kommunale Fürsorgestelle für Geisteskranke usw. In: H. Roemer, G. Kolb, V. Faltlhauser (Hg.): Offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten. Berlin: Springer, S. 72-80.

Wendenburg, F. (1929): Soziale Hygiene. (Handbücherei für Staatsmedizin, Bd. 13). Berlin: Heymann.

Wendenburg, F. (1931): Offene psychiatrische Fürsorge vom kommunalen Fürsorgeamt aus. In: O. Bumke, G. Kolb, H. Roemer, E. Kahn  (Hg.): Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge. Leipzig: De Gruyter, S. 134-137.

Wendenburg, F. (1933): Die Aufgaben der Kommunalverwaltung bei dem Auf- und Ausbau der N.S.-Volkswohlfahrt. In: Die nationalsozialistische Gemeinde 1, S. 138-140.

Wetzel, A. (1931): Psychiatrische Krankenhausfürsorge. In: O. Bumke, G. Kolb, H. Roemer, E. Kahn (Hg.): Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge. Leipzig: De Gruyter, S. 132-134.

 

Robin Pape, Burkhart Brückner

 

Zitierweise
Robin Pape, Burkhart Brückner (2015): Wendenburg, Paul Friedrich.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/210-wendenburg-paul-friedrich
(Stand vom:20.04.2024)