- Nachname:
- Reil
- Vorname:
- Johann Christian
- Epoche:
- 18. Jahrhundert
19. Jahrhundert - Arbeitsgebiet:
- Medizin
Psychiatrie - Geburtsort:
- Rhaude (DEU)
- * 20.02.1759
- † 22.11.1813
Reil, Johann Christian
Deutscher Arzt, Vertreter der romantischen Medizin, Begründer des Begriffs "Psychiatrie"
Johann Christian Reil (1759-1813) wurde in Rhaude (Ostfriesland) als Pfarrerssohn geboren. Er hatte Professuren für Medizin in Halle und an der Berliner Universität. Reil übernahm amtsärztliche Aufgaben im Preußischen Staat (u. a. zur Verbesserung der Lazarette) und vertrat eine in die Aufklärung eingebettete romantische Medizin. 1808 verwendete er in einem Aufsatz erstmalig das Wort „Psychiaterie“. Reil gilt als der wirkmächtigste deutschsprachige Arzt in der Gründungsära der Psychiatrie (der „deutsche Pinel“).
Lebensweg
Nach dem Medizinstudium in Göttingen (1779) und Halle (1780-1782) absolvierte Reil Lehr- und Zwischenstationen als praktischer Arzt, etwa 1782 in Berlin bei Markus Herz, bei dem er auch wohnte, und danach in der ostfriesischen Stadt Norden. Seit 1787 war er in seiner Wahlheimat Halle als Extraordinarius tätig. Nach dem Tod seines Förderers Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen im Jahr 1788 wurde er ordentlicher Professor der Medizin und Stadtphysikus. 1788 heiratete er die aus einer wohlhabenden Hallenser Familie stammende Johanna Wilhelmine Leveaux. Reil war außerdem seit 1782 Mitglied der Freimaurerloge „Zu den drei Degen“ in Halle und engagierte sich für die Errichtung einer Heil-Badeanstalt, in der er zeitlebens als Badearzt praktizierte.
Reil hatte Kontakt mit bedeutenden Medizinern seiner Zeit (Johann Christian Ferdinand von Authenrieth, Christoph Wilhelm Hufeland), behandelte bekannte Persönlichkeiten im Halleschen Kurbad (z. B. Johann Wolfgang von Goethe) und war im preußischen Staat ein hochgeschätzter Arzt und Professor. 1803, nach Ablehnung verschiedener Rufe an außerpreußische Universitäten, schenkt ihm der preußische König Friedrich Wilhelm III. den 130 Meter hohen Schafsberg bei Halle, auf dem Reil eine Villa und Parkanlage errichtete. Reil gehörte zu den Beratern Wilhelm von Humboldts bei der Gründung der Berliner Universität 1809, übernahm dort ab 1810 eine ordentliche Professur für Medizin, wobei er der Stadt Halle als Badearzt und als Leiter der Lazarette in Leipzig und Halle verbunden blieb. In dieser Funktion besuchte er im Oktober 1813 die Kampfgebiete der Völkerschlacht, hinterließ Briefdokumente über die Verwundeten und Sterbenden, erkrankte auf dieser Reise selbst an Typhus und starb am 22. November des Jahres in Halle (Kaiser & Mocek 1979; Schrenk 1973, S. 61 ff.; Dörner 1969/1975, S. 227-273).
Lebenskraft und Störungstheorie
In seiner stark von Schellings Naturphilosophie geprägten Schrift Von der Lebenskraft (1795) thematisierte Reil diese als übergeordnetes Prinzip des Lebendigen, das den Gesamtorganismus als immaterielle Kraft belebe. Angelehnt an die populäre Reizlehre des schottischen Arztes John Brown und das Konzept der „materiellen Ideen“ von Markus Herz (vgl. Hansen 1998, S. 399) unterschied Reil eine den jeweiligen Organen und Organsystemen zugehörige Lebenskraft, die sich in Irritabilität und spezifischen Reizantworten niederschlage (Reil 1795/1910; Koschorke 2004; Tsouyopoulos 2008, S. 36 ff.). Ähnliches gelte auch für das „Seelenorgan“, welches die Vielfalt des „Gemeingefühls“ ordne (Sinneseindrücke, Vorstellungen und Gefühlstriebe; vgl. Hagner 1997, S. 157-170). Würde diese „synthetischen Funktion“ des Seelenorgans aufgrund innerer oder äußerer Ursachen beeinträchtigt, träten die unsynthetisierten und insofern „zerrütteten“ Organfunktionen ungefiltert zu Tage (vgl. Reil 1795/1910, S. 46 ff.). Reil griff damit einerseits bürgerliche Diskurse auf, die Wahnsinn als Folge von Schwärmerei oder der ungezügelten „Nachtseite“ der Seele verstanden (Kaufmann 1995, S. 56 ff.), aber auch Schellings philosophische Positionen sowie das zeitgenössische Modell des „zweifachen Seelenorgans“ nach Ernst Platner, der – in platonischer Tradition – eine tierische und eine geistige Seele des Menschen unterschieden hatte (vgl. Marneros & Pillmann 2005, S. 50 ff.; Sonntag 2001). Sofern Reil das wissenschaftliche Problem der Irrationalität als die „unsynthetisierte“, innere Nachtseite des Menschen begriff und die Gesetzmäßigkeiten dieses „Inneren“ klären wollte, eröffnete er der Medizin Zeit einen konzeptuellen und praktischen Zugang zum Irren.
„Psychiaterie“ als Seelenheilkunde
1808 schuf Reil den Ausdruck „Psychiaterie“ in dem Aufsatz Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie, um die Einheit von „Spekulation und Empirie“ sowie seelischen und körperlichen Phänomenen von der psychischen Seite her zu begreifen: „Es bleibt also bloss die Psychiaterie oder die Methode übrig, Krankheiten durch Mittel zu heilen, die zunächst das ideelle Princip des Menschen berühren. ... Das Problem, was die Psychiaterie aufzulösen hat, ist: welche Veränderungen des Organismus sind durch primaire Eindrücke auf die ideelle Seite desselben, Behufs der Heilung seiner Krankheiten, möglich?" (Reil 1808, S. 238).
„Psychische Curmethode“
Konzeptionelle Antworten auf seine Fragestellung fand Reil mit seinem psychiatrischen Hauptwerk, den 1803 veröffentlichten Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Er forderte staatlich beaufsichtigte, ländliche Heilanstalten, die sich von den früheren Tollhäusern durch bessere Personalausstattung und adäquate Architektur unterscheiden sollten und pharmazeutische, chirurgische und psychische Mittel bereitstellen. Um das gestörte Selbstbewusstsein der „Irrenden“ wieder aufzurichten, brauche es einen „Arzt der Seele und Arzt des Körpers“ (Reil 1808/1968, S. 237) sowie die Einstellung von „Psychologen“ für die „Pädagogik der Seele“ (Reil 1803/1968, S. 68 u. 477 f.). Im Zentrum der Methode stand die Unterwerfung der Patienten unter das synthetische Bewusstsein des Arztes, der sie in drei Stufen „aufwärts zum vollen Vernunftgebrauch“ „gängeln“ müsse (1. grobe Reize wie Trommelschläge oder Brenneisen; 2. spezifisch wirkende Reize wie Gymnastik und Bewegung; 3. Sprechen als auf das synthetische Bewusstsein wirkender Reiz; vgl. Brückner 2007, S. 35 ff.; Schlimme & Gonther 2010, S. 68 ff.).
Reils Werk hatte nachhaltigen Einfluss auf die Konstitution der „psychischen Medicin“ und frühen Psychiatrie nach 1800 im Sinne der in England (Tuke) und Frankreich (Pinel) bereits erprobten, paternalistischen „moralischen Behandlung“. Die Wahnsinnigen wurden dem Anspruch nach als bürgerliche Subjekte rehabilitiert und die moderne Psychiatrie als eine Spezialdisziplin der Medizin ausdifferenziert.
Literatur
Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 2, Das 19. Jahrhundert – Deutschland Hürtgenwald: Pressler.
Dörner, K. (1969): Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
Gregor, A. (1921): Johann Christian Reil. In: T. Kirchhoff (1921, Hg.): Deutsche Irrenärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. Berlin: Springer, S. 28-42.
Hagner, M. (1997): Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin: Berlin Verlag.
Hansen, L. A. (1998): Metaphors of Mind and Society. The Origins of German Psychiatry in the Revolutionary Era. In: Isis – Journal of the History of Science Society 89, (9), S. 387-409.
Kaiser, W., R. Mocek (1979). Johann Christian Reil. Leipzig: Teubner.
Kaufmann, D. (1995): Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die „Erfindung“ der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Koschorke, A. (2004): Poesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin. In: G. Brandstetter, G. Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg, S. 259–272.
Marneros, A., F. Pillmann (2005): Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Stuttgart: Schattauer.
Marx, O. M. (1990): German romantic psychiatry. Part I. In: History of Psychiatry 1, S. 351-381.
Neuburger, M. (1913): Johann Christian Reil. Gedenkrede. Stuttgart: Enke.
Reil, J. C.. (1803/1968): Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Amsterdam: Bonset.
Reil, J. C. (1808): Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie. In: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege 1, (2), S. 161-279.
Reil, J. C., J. C. Hoffbauer (1808): Nachschrift der Herausgeber. In: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege 1, (1), S. 153-160.
Reil, J. C. (1799/1815): Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber. 5 Bde. Halle: Curt.
Reil, J. C. (1795): Von der Lebenskraft. In: Archiv für die Physiologie 1, (1), S. 8-162 [Nachdruck Leipzig: Barth 1910].
Reil, J. C. (1815/1816): Entwurf einer allgemeinen Pathologie. 3 Bde. Halle: Curt.
Schrenk, M. (1973): Über den Umgang mit Geisteskranken. Die Entwicklung der psychiatrischen Therapie vom „moralischen Regime“ in England und Frankreich zu den „psychischen Curmethoden“ in Deutschland. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1973.
Sonntag, M. (2001): Vermessung der Seele. Zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft. In: R. van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau, S. 361-384.
Schlimme, J. E., U. Gonther (2010): Hölderlin und die Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Tsouyopoulos, N. (2008): Asklepios und die Philosophen. Paradigmenwechsel in der Medizin im 19. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog.
Catharina Bonnemann, Burkhart Brückner
Foto: Schnor von Carolsfeld (Maler); F. W. Bollinger (Stecher), (http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/6994/) / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain].
Zitierweise
Catharina Bonnemann, Burkhart Brückner (2015):
Reil, Johann Christian.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/189-reil-johann-christian
(Stand vom:22.11.2024)