Nachname:
Selvini Palazzoli
Vorname:
Mara
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Psychiatrie
Psychoanalyse
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Geburtsort:
Mailand (ITA)
* 15.08.1916
† 21.06.1999
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Italienische Psychoanalytikerin und systemische Familientherapeutin.

 

Mara Selvini Palazzoli (1916-1999) wurde in Mailand als viertes von fünf Kindern einer Unternehmerfamilie geboren. Die Mutter erzog die Kinder streng katholisch. Sie absolvierte zunächst ein Medizinstudium und dann die Facharztausbildung zur Internistin an der Universitätsklinik Mailand. Aus der Heirat mit dem Internisten und Kardiologen Aldo Selvini im Jahr 1947 gingen drei Kinder hervor. Angeregt durch die klinisch-internistische Behandlung von anorektischen Mädchen interessierte sie sich  zunehmend für psychotherapeutische Themen und begann eine Ausbildung zur Psychiaterin. Ab 1950 absolvierte sie eine psychoanalytische Weiterbildung mit Lehranalyse bei Gaetano Benedetti. Sie spezialisierte sich auf die Behandlung von Magersüchtigen (1963, L’ anoressia mentale) und stand der interpersonalen Psychoanalyse (F. Fromm-Reichmann, H. S. Sullivan) und der Existenzanalyse (V. Frankl) nahe. Obwohl bereits international profiliert, schloss sie 1965 überraschend ihre Praxis und wandte sich systemtheoretischen Ansätzen zu.

 

Mailänder Modell der systemischen Psychotherapie

1967 unternahm sie eine kurze Studienreise nach Philadelphia, um dort Familiensitzungen von Ivan Boszormenyi-Nagy, James Framo und Salvador Minuchin zu beobachten und baute noch im selben Jahr mit sieben anderen Kollegen das private Institut „Centro perlo Studio della Famiglia e delle tecniche di Gruppo“ in Mailand auf. Das Institut war zunächst psychoanalytisch geprägt und wurde dann zum ersten systemisch-familientherapeutischen Zentrum Italiens. Selvini Palazzoli verließ die Gruppe 1971 und gründete das schulbildende „Mailänder Team“ mit Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata. Im Mittelpunkt standen die sozialen und kommunikativen Beziehungen in Familien mit gestörten Mitgliedern (den „Symptomträgern“). Dies führte zu einer höheren und teils provokativen Aktivität der Therapeuten samt Förderung der Therapiemotivation, sowie zu Analysen der strategischen „Spielzüge“ der Familie und zur Entwicklung der zirkulären Fragetechniken. Charakteristisch waren die Bildung eines Teams pro Familie mit drei Therapeuten, Beobachtungen durch Einwegspiegel („Zweikammersystem“) und oft nicht mehr als zehn Sitzungen. Diese Maßnahmen wurden angesichts der evidenten Machtposition der Therapeuten auch vielfach kritisch kommentiert.

 

In dem 1975 veröffentlichten Klassiker Paradosso e Contraparodosso (Paradoxon und Gegenparadoxon) beschrieb Selvini Palazzoli ein Modell für die Therapie von Psychosen. Grundsätzlich sollten in der Therapie die Bemühungen und Kommunikationsmuster anerkannt werden, mit denen Familien sich selbst stabilisieren. Das Modell beinhaltete aber auch Vorschläge für paradoxe Interventionen, wie etwa den Ratschlag, dass eine Familie sich trotz ihrer Probleme gerade nicht ändern sollte. Der Aufsatz Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität von 1981 fasste die Prinzipien der Gruppe nochmals zusammen.

 

Das Spätwerk

1980 löste sich das Mailänder Team auf und Selvini Palazzoli gründete mit Giuliana Prata ein weiteres Institut. Sie erweiterte ihr Forschungsspektrum auf größere Systeme (Schulen, Kliniken, Unternehmen) und formierte 1982 ein weiteres neues Team im Nuovo Centro per lo Studio della Famiglia, in dem auch ihr Sohn Matteo eingebunden war. 1980 erschien das umstrittene Buch I giochi psicotici nella famiglia (Psychotische Spiele in der Familie), in dem Palazzoli sich teilweise wieder auf einzeltherapeutische und psychoanalytische Ansätze stützte.

 

Über ihre letzten Jahre schrieb Helm Stierlin (2011, S. 11), der sie persönlich kannte: „Ihr Sohn Matteo berichtete mir, dass es seiner Mutter bereits seit Weihnachten 1997 körperlich und geistig sehr schlecht gehe und sie sich von allen Menschen zurückgezogen habe. Für mich war das ein ziemlicher Schock. Vital und energisch, wie ich Mara Selvini erlebt hatte, hatte ich irgendwie die Vorstellung gehabt, dass sie mindestens 100 Jahre alt werden würde!“ Mara Selvini Palazzoli starb am 1999 im Alter von 83 Jahren in ihrer Heimatstadt Mailand.

 

Literatur

Binter, G. (2005): Selvini-Palazzoli, Mara. In: G. Stumm:  Personenlexikon der Psychotherapie. Wien: Springer, S. 436-438.

Pisarsky, B. (2000): Die Mailänder Schule. Systemische Therapie von der paradoxen Intervention zum epigenetischen Ansatz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Selvini, M. (2008; Hg.): Mara Selvinis Revolutionen. Die Entstehung des Mailänder Modells. Heidelberg: Auer.

Selvini Palazzoli, M. (1999): Anorexie und Bulimie. Neue familientherapeutische Perspektiven. Stuttgart: Klett-Cotta.

Selvini Palazzoli (1988): Die psychotischen Spiele der Familie. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.

Selvini Palazzoli, M., L. Boscolo, G. Cecchin, G. Prata (1981): Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität. In: Familiendynamik 6, S. 123-139.

Selvini Palazzoli, M., L. Boscolo, G. Cecchin, G. Prata (1975): Paradoxon und Gegenparadoxon. Heidelberg: Auer 1977.

Selvini Palazzoli, M. (1974): Self-starvation – from the intrapsychic to the transpersonal approach to anorexia nervosa. London: Human context books.

Selvini Palazzoli, M. (1967). Disordini del pensiero e relazioni familiari degli schizofrenici. In: Archivio di Psicologia Neurologia e Psichiatria 4, S. 306-319.

Selvini Palazzoli, M. (1963): L’anoressia mentale. Milano: Feltrinelli.

Speed, B. (2000): In appreciation of Mara Selvini Palazzoli. In: Australian and New Zealand Journal of Family Therapy 21, (3), 2000, S. 175-176.

Stierlin, S. (2011): Ich brannte vor Neugier! Familiengeschichten bedeutender Familientherapeutinnen und Familientherapeuten. Heidelberg: Auer.

 

Ansgar Fabri, Burkhart Brückner

 

Zitierweise
Ansgar Fabri, Burkhart Brückner (2015): Selvini Palazzoli, Mara .
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/142-selvini-palazzoli-mara
(Stand vom:17.11.2024)