Zürn, Unica

Künstlerin und Schriftstellerin

Nora Berta Unika Ruth Zürn (1916-1970) wurde als Tochter des Kolonialoffiziers Ralph Zürn und seiner Frau Helene Pauline Heerdt in Berlin-Grunewald geboren. Der Vater hatte sich 1910 von seiner ersten Ehefrau, der Schriftstellerin Dorrit Strohal getrennt, die sich 1916  das Leben nahm (v. Hoff 2005, S. 399). 1913 heiratete er Helene Heerdt, diese Ehe wurde 1930 geschieden. 1931 heiratete er in dritter Ehe die Dänin Asta Zürn. Von ihrer leiblichen Mutter fühlte Unica Zürn sich abgelehnt und vernachlässigt, von ihrem zwei Jahre älteren Bruder Ralph wurde sie sexuell missbraucht und vom idealisierten Vater kaum beachtet. Der Vater starb 1939, als Zürn 22 Jahre alt war.

Bis zum Alter von 16 Jahren besuchte Zürn ein Berliner Gymnasium und erreichte den mittleren Schulabschluss. Von 1934 bis 1942 arbeitete sie bei den Ufa-Filmstudios in Babelsberg zuerst als Sekretärin und dann als Werbefilmdramaturgin. 1942 heiratete sie Erich Laupenmühlen, den wohlhabenden Geschäftsführer der Firma Leitz, mit dem sie zwei Kinder bekam (Katrin, geb. 1942; Christian geb. 1945). Die Ehe wurde 1949 aufgrund andauender Untreue seitens ihres Mannes geschieden. Aus finanziellen Gründen verlor Zürn das elterliche Sorgerecht, bis 1953 durfte sie ihre Kinder einmal im Monat sehen (Scholl 1990, S. 57; v. Hoff 2005, S. 400). Zwischen 1949 und 1955 schrieb sie Gedichte und feuilletonistische Artikel für Berliner Zeitungen, lernte Schriftsteller und Künstler kennen und veröffentlichte 1956 das Kinderbuch Wenn man allein unterwegs ist. Bei einer Vernissage in der Berliner Springer Galerie traf sie 1953 den Surrealisten Hans Bellmer (1902-1975). Schnell entschloss Zürn sich, zu ihm nach Paris in das Hotel de l’Esperance“ am Rande des Quartier Latin zu ziehen. Unter schwierigen finanziellen Verhältnissen und weitgehend sozial isoliert, zeichnete sie und verfasste Gedichte, Kurzgeschichten und Hörspiele.

Krisen und Klinikaufenthalte

Zwischen 1957 und 1959 lebte das Paar in Erméonville bei Paris. 1958 brach Zürn eine Schwangerschaft ab, trennte sich 1959 vorübergehend von Bellmer, blieb aber finanziell von ihm abhängig (Scholl 1990, S. 59). Sie geriet in eine schwere psychische Krise und wurde von Oktober 1959 bis Februar 1960 in den Karl-Bonhoeffer-Heilstätten in Berlin-Wittenau behandelt. Ihr französischer Psychiater beschrieb ihre Verfassung wie folgt: „Visionen; optische und akustische Geruchs- und Geschmackshalluzinationen; Beeinflussungswahn; Wahn der Ausbreitung des Eigenen auf Andere; Gedankenlautwerden; rauschhafte Glücksmomente mit Größenwahn; depressive Verstimmung.“ (zit. nach Alves 1999, S. 205). Nach der Entlassung kehrte sie zu Bellmer nach Paris zurück, wurde jedoch im September nach zwei Suizidversuchen in die Klinik St. Anne nahe Paris eingewiesen und von dem Psychiater Jean-François Rabain (1970) behandelt (Morrien 1996, S. 160). 1965 bezog sie mit Bellmer eine gemeinsame Wohnung an der Place de la Nation. Von Sommer bis November 1964 wurde Zürn in der Anstalt La Rochelle und vom 15. Juni bis zum 28. September 1966 im Maison Blance in Neuilly-sun-Marne behandelt. 1967 entstand die Erzählung Dunkler Frühling, die auf Vermittlung von Ruth Henry 1969 erschien. Im Oktober 1969 erlitt Hans Bellmer einen schweren Schlaganfall. Zürn hielt sich im Dezember und Januar erneut im Maison Blanche auf. Bellmer wollte sich von ihr trennen, Zürn wurde daraufhin Mitte Mai zwangsweise in die Klinik von Chailles überführt wurde. Bei einem Ausgang besuchte sie Bellmer in Paris, übernachtete bei ihm und stürzte sich am Morgen des 19. Oktober aus dem Fenster seiner im sechsten Stock gelegenen Wohnung (Scholl 1990, S. 62; Cizik Marshall 2000, S. 21). Unica Zürn starb auf dem Weg ins Krankenhaus im Alter von 54 Jahren.

Künstlerischer Werdegang

Hans Bellmer, der vor allem für seine erotischen Zeichnungen und Fotografien bekannt war, motivierte Zürn, sich auf „automatische“ Zeichnungen und Anagramme zu spezialisieren. Die Springer Galerie stellte 1953 Arbeiten von ihr in Berlin unter dem Titel Hexentexte aus. Im selben Jahr fand ihre erste Einzelausstellung in der Galerie Le Soleil dans la Tete in Paris statt, die unter anderem von André Breton, Man Ray, Hans Arp und Gaston Bachelard besucht wurde. Zürn fand eine eigenständige Position in der surrealistischen Bewegung und lernte u.a. Man Ray, Marcel Duchamp und Max Ernst kennen. In ihren Werken thematisierte sie die eigene Biographie und Formen der Gewalt gegen den weiblichen Körper. Während sie in der Erzählung Der Mann im Jasmin vor allem ihre psychotischen Erfahrungen und Klinikaufenthalte beschrieb, spiegelt die Erzählung Dunkler Frühling von 1969 ihre Kindheitserinnerungen und ihre Versuche, die psychotischen Erfahrungen zu bewältigen und in ihr Leben zu integrieren.

Der Mann im Jasmin

Die zwischen 1963 und 1967 entstandene Erzählung Der Mann im Jasmin kann als Versuch einer konsequenten Selbstanalyse der Autorin verstanden werden. Dafür beschrieb Zürn die 1960 erlebten halluzinatorische Krisen: Trotz großer Angst erfasste die Protagonistin eine seltsame Faszination. Sie konnte keine andere Erklärung als die einer Hypnose finden, aber Freunde überzeugten sie, dass sich kein ‚Hypnotiseur’ in der Wohnung befindet. Sie schrieb dazu in 3. Person: „Sie liegt auf dem Bett und studiert Annoncen in ‘France Soire’. Eine Beschäftigung, die zur Manie wird, denn in fast jeder Annonce, in fast jedem Titel eines Theater­stückes oder eines Filmes glaubt sie Botschaften zu entziffern, die sich an ihre Person richten. … Der so sehr angenehme Zustand des Größenwahnsinns, das köstli­che Gefühl, sich bereits im Mittelpunkt aller Ereig­nisse zu befinden, der Zustand des Auserwähltseins erscheint. Ein Gefühl des Glücks, der großen Leichtigkeit!“ (1977, S. 72 f.).

Sie hielt an der Idee fest, ein namenloser Unbekannter schicke ihr die Halluzinationen und Eingebungen und habe sie hypnotisiert, der „weiße Mann“, der mit ihr auch zwischen den Zeilen der Zeitungen zu kommunizieren schien. Ihr behandelnder Ärzte resümierte: „Bis zur letzten Zeile wird er nicht benannt.“ (Rabain 1970, S. 218). Die gesamte Erzählung, die nichts anderes ist, als der Versuch einer Selbstanalyse bis in die Kindheit hinein, dreht sich um den Versuch, die Identität jenes imaginären Mannes zu ergründen. Der Text schließt mit einer Deutung: „Erst dann, wenn sie keine Lust mehr auf Halluzinationen verspürt, diese schönen Sensationen, die die Geisteskrankheit zu schenken vermag, wird sie dazu bereit sein, gesund zu bleiben.“ (a.a.O. 128).

Die Paradoxie der Lust auf den Wahnsinn führte zum Bild jenes „Manns im Jasmin“, dem Symbol ihres „Jugendtraummanns”, wie ihn eine Interpretin bezeichnete (Scholl 1990, S. 59). Vor dem Hintergrund der durch den Bruder erfahrenen sexuellen Gewalt vermochte Unica Zürn offenbar, bereits mit Hans Bellmer fest liiert, die Begegnung mit einem weiteren Mann, der ihr das Ideal zu verkörpern schien, nicht zu verkraften: „In einem Pariser Zimmer steht sie dem Mann im Jasmin gegenüber. Der Schock dieser Begegnung ist für sie so gewaltig, daß sie ihn nicht überwinden kann. Sehr, sehr langsam beginnt sie von diesem Tage an, ihren Verstand zu verlieren.“ (Zürn 1966, S. 10). Der Mann dem sie begegnete, war der Künstler Henri Micheaux (1899-1984), seine Initialen setzten sich in Zürns Imagination durch: „Das ‘H.L.M.’ der großen Pariser Verwaltung der Mietshäuser wird zu einem persönlichen Gruß, zu einem großen Lächeln an sie.“ Micheaux, der 1956 mit Meskalin zu experimentieren begann und den induzierten „Emporflug“, wie er es nannte, in Berichten und Zeichnungen festhielt, ordnete das Erlebnis der artifiziellen Überschreitung dem surrealistischen Erkenntnisinteresse unter, wie es auch von André Breton oder Max Ernst vertreten wurde, und es war diese Lebenswelt, in der Unica Zürn sich aufhielt – jedoch ohne darin eine Balance für ihr Leben finden zu können.

Literatur

Alves, E. M. (1999):  Unica Zürn (1916-1970). “Ernst ist der Name ICH.  Es ist Rache“. In: WahnsinnsFrauen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 201-221.

Baumgärtel, U. (2000): “…dein Ich ist ein Gramm Dichtang…“. Die Anagramme Unica Zürns. Wien: Passagen Verlag.

Bellmer, H., U. Zürn, G. Ferdiére (1994): Lettres au docteur Ferdier̀e. Paris: Séguier.

Bellmer, H. (2009): Pour Unica Zürn. Lettres de Hans Bellmer à Henri Michaux & autres documents. Paris: Ypsilon.

Brinkmann, E. (2009): Unica Zürn. Alben. Bücher und Zeichenhefte. Berlin: Brinkmann und Bose.

Cizik Marshall, J. (2000): The Semiotics of Schizophrenia: Unica Zürn´s Artistry and Illness. In: Mordern Language Studies 30, (2), S. 21-31.

Ernst, M., Zürn, U. (1962): Dessins gouaches. Exposition, 9.-3. janvier 1962, Le Point Cardinal. Paris: Le Point Cardinal.

Export, V., M. Eifler, K. Sager (1989): The Real and Its Double: The Body. In: Discourse 11, (1), S. 3-27.

Fanger, E. R. (2001): Wie ein Weib, ganz hin sich opfernd… Unica Zürn – Maria Luisa Bombal. Hamburg: Books on Demand.

Glosvik, G. I. (1995): Im Labyrinth der Ariadne. Bergen: Germanistisk Institutt.

Hartmann, F. (1988): Die Anagramme Unica Zürns. Hamburg: Universität Hamburg.

Henry, R. (2007): Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn. Hamburg: Edition Nautilus.

Hoff, D. v. (2005): Unica Zürn. Dunkler Frühling (1969). In: C. Benthien, I. Stephan: Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln: Böhlau, S. 397-414.

Keller, U. (2000): “Nun breche ich in Stücke…” Leben, Schreiben, Suizid. Über Sylvia Plath, Virginia Woolf, Marina Zwetajewa, Anne Sexton, Unica Zürn, Inge Müller. Berlin: Vorwerk 8.

Lutz, H. (2003): Schriftbilder und Bilderschriften. Stuttgart: Metzler.

Morrien, R. (1996): Weibliches Textbegehren bei Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer und Unica Zürn. Würzburg: Königshausen + Neumann.

Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (1998, Hg.): Unica Zürn. Bilder 1953 – 1970. Berlin: Brinkmann und Bose.

Rabain, J.-F. (1970): Zu Unica Zürn „der Mannim Jasmin“. In: U. Zürn (1977): Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling. Frankfurt am Main: Ullstein, S. 217-223.

Ribas, J., M. A. Caws (2009): Unica Zürn. Dark Spring. New York: Drawing Center.

Saxe, C. (1997): Unica Zürn. In Oh grosse Ränder an meiner Zukunft Hut! – Portraits surrealistischer Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. Berlin: Aviva-Verlag.

Schmitter, E. (2009): In den Eingeweiden der Sprache. In Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. München: Bertelsmann.

Schneider, F. (1979): Unica Zürn. Zu ihrem Leben und Werk. Zürich : Deutsches Seminar.

Scholl, S. (1990): Unica Zürn. Fehler, Fallen, Kunst. Frankfurt am Main: Anton Hain.

Wysockl von, G. (2000): Weiblichkeit als Anagramm. In: Die Fröste der Freiheit. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Zürn, U. (1954): Hexentexte. Zehn Zeichnungen und zehn Anagrammtexte. Berlin: Galerie Springer.

Zürn, U. (1977): Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling. Frankfurt am Main: Ullstein.

Zürn, U. (1980): Im Staub dieses Lebens. Dreiundsechzig Anagramme. Berlin: Alpheus.

Zürn, U. (1981): Approche d’Unica Zürn. Paris: Le nouveau commerce.

Zürn, U. (1981a): Das Weiße mit dem roten Punkt. Unveröffentlichte Texte und Zeichnungen. Berlin: Lilith Frauenbuchladen und Verlag.

Zürn, U. (1989): Gesamtausgabe. 5 Bde. Hg. von G. Bose und E. Brinkmann. Berlin: Brinkmann und Bose.

Zürn, U. (1999): Anmerkungen, Briefe, Dokumente. Berlin: Brinkmann & Bose.

Zürn, U. (1999): Das Haus der Krankheiten. Berlin: Brinkmann und Bose.

Zürn, U. (2001): Briefe, Dokumente, Hörfunk. Berlin: Brinkman und Bose.

Burkhart Brückner, Jessica Thönnissen

Zitierweise

Burkhart Brückner

(2025):
Zürn, Unica

In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.

URL: https://biapsy.de/zuern-unica
Stand vom:
16.11.2025