Rogers, Carl Ransom
The curious paradox is that when I accept myself just as I am, then I change (1961,19).
Nachname:
Rogers
Vorname:
Carl Ransom
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Psychologie
Psychotherapie
Beratung
Geburtsort:
Oak Park (USA)
* 08.01.1902
† 04.02.1987
Biographie drucken

Amerikanischer Psychotherapeut, Hauptvertreter der humanistischen Psychologie und Begründer der Gesprächspsychotherapie.

 

Elternhaus und Studium

Carl Rogers (1902-1987) wuchs als viertes von sechs Kindern in Oak Park, einer Vorstadt von Chicago auf. Die Eltern erzogen ihre Kinder christlich-fundamentalistisch. Ihr Sohn war ein begabtes, aber schüchternes und häufig krankes Kind. Carl Rogers studierte zunächst an der University of Wisconsin Agrarwissenschaft und dann Theologie, um Priester zu werden. Durch einen sechsmonatigen Aufenthalt in Peking emanzipierte er sich vom Elternhaus und wechselte zur Psychologie und Pädagogik. 1924 heiratete er seine Frau Helen. Ihr Sohn David wurde Mediziner, die Tochter Natalie Kunsttherapeutin. 1928 erwarb Rogers einen Masterabschluss an der Columbia Universität (New York) und promovierte 1931 über die Messung von Persönlichkeitsentwicklungen bei Kindern.

 

Entwicklung des personzentrierten Ansatzes

Seine ersten beruflichen Erfahrungen sammelte Rogers ab 1928 am Child Study Department of the Society for the Prevention of Cruelty to Children in Rochester (New York). 1930 übernahm er dort die Leitung der Erziehungsberatungsstelle, arbeitete in den nächsten zehn Jahren mit sozial benachteiligten Familien, orientierte sich an modifizierten psychoanalytischen Konzepten (O. Rank) und engagierte sich in Berufsorganisationen für Soziale Arbeit. Ab1936 begann er mit der Gründung des Rochester Guidance Center, unterrichtete an der Universität und projektierte sein erstes Buch (The Clinical Treatment of the Problem Child, 1939).

 

1940 erhielt er eine Professur an der Ohio State University. Er analysierte auf Schallplatten aufgezeichnete therapeutische Gespräche, führte diese Methodik in die Wirkungsforschung ein und entwickelte seinen „nicht-direktiven“ Stil der Gesprächsführung (Counseling and Psychotherapy, 1942). Dabei sprach er – gegenüber expertenzentrierten Behandlungsmodellen – von „Klienten“ statt „Patienten“ und verzichtete auf lenkende und kontrollierende Interventionen. Beeinflusst durch das Konzept des „phänomenologischen Feldes“ (D. Snygg, A. W. Combs) entwickelte er eine Psychologie des Verstehens (W. Dilthey) und eine Theorie des Selbsts: Psychisches Leiden manifestiere sich aufgrund mangelnder Zuwendung im Lebenslauf in Form einer psychischen „Inkongruenz“ zwischen Ideal-Selbst und Real-Selbst im Selbstkonzept (Client-centered therapy, 1951). Die Therapie fördere inneres Wachstum und Nachreifung („Selbstaktualisierung“; K. Goldstein). Entscheidend sei nicht eine bestimmte Schulrichtungen oder Technik, sondern die persönliche Haltung in der professionellen Beziehung, die Fähigkeit zum „aktiven Zuhören“ sowie „die Authentizität, Echtheit oder Kongruenz des Therapeuten, zudem der Grad des einfühlenden Verstehens seines Klienten und der Grad der bedingungsfreien Wertschätzung oder nicht besitzergreifenden Zuwendung, die er für seinen Klienten empfindet.” (Rogers 1962, S. 4).

 

Rogers verdeutlichte seine Position 1956 in einer Kontroverse mit dem Behavioristen B. F. Skinner und kehrte ein Jahr später an die University of Wisconsin zurück. Nach Konflikten im Kollegium wechselte er ab 1964 an das Western Behavioral Science Institute in La Jolla (Kalifornien) und gründete 1968 mit 25 Kollegen das Center for Studies of the Person. Seine zunehmend international ausgerichteten Aktivitäten wurden in den siebziger Jahren von Konflikten mit seiner inzwischen pflegebedürftigen Frau sowie von dem Scheitern der Ehen beider Kinder überschattet. Rogers ging Verbindungen mit anderen Frauen ein und kompensierte die Spannungen mit erhöhtem Alkoholkonsum (Hinz & Behr 2002). Nach dem Tod seiner Frau 1979 intensivierte er sein Engagement für gruppentherapeutische und basisdemokratische Prozesse („Encounter“), die er unter anderem mit Großgruppen in Nordirland, Südafrika und Brasilien zusammen mit seiner Tochter Natalie initiierte. Um die konzeptionelle Ausweitung zu verdeutlichen, nannte Rogers nun sein Verfahren „personzentriert“. Carl Rogers starb im Februar 1987 mit 85 Jahren nach einem Unfall in San Diego.

 

Sein wichtigster autobiographischer Essay erschien 1961 unter dem Titel This is Me. Der Nachlass wird in der Library of Congress (Washington D.C.) und in einem Archiv der University of California (Rogers Collection, Santa Barbara) aufbewahrt.

 

Internationale Wirkung und Kritik

Rogers gilt als Hauptvertreter der humanistischen Psychologie, der „dritten Kraft“ in der Psychologie des 20. Jahrhunderts neben Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Sein personzentrierter Ansatz hat sich weltweit als eine fundamentale Strategie in Beratung und Psychotherapie in den unterschiedlichsten psychosozialen Bereichen und mit zahlreichen Weiterentwicklungen durchgesetzt (Cornelius-White et al. 2013; Gahleitner et al. 2013; Norcross 2011; Sachse 2005; Gendlin 1978). In Westdeutschland wurde die Gesprächspsychotherapie  in den siebziger Jahren durch das Ehepaar Annemarie und Reinhard Tausch (Universität Hamburg) bekannt, aber erst 2002 berufsrechtlich und 2006 als Verfahren anerkannt. Der Ansatz wurde auch kritisch hinterfragt: Die Theorie der Subjektivität beruhe auf nicht überprüfbaren anthropologischen Setzungen und sei zu optimistisch und individualistisch (Straub 2012). Die Effekte des Verfahrens, das für alle Problemtypen und Störungen gelten solle (Uniformitätsthese), würden überschätzt und seien empirisch zu wenig belegt (Speierer 1994). Zudem eigene es sich nicht für vertiefte und strukturell wirksame therapeutische Prozesse.

 

Bedeutung für die Psychiatrie

Von 1957 bis 1963 erprobte Rogers die klientenzentrierte Methodik in der stationären Arbeit mit chronisch schizophrenen Patienten am Mendota State Hospital in Madison, Wisconsin (Rogers et al. 1967). Eine klinische Kontrollgruppenstudie ergab allerdings keine signifikanten Verbesserungen und nur leicht bessere Entlassungsraten und Persönlichkeitsentwicklungen (Rogers 1967, S. 73 ff.). Es erwies sich als schwierig, mit den häufig schweigenden oder monologisierenden Patienten in Kontakt zu treten. Dennoch schloss Rogers, dass „hinter den Vorhängen des Schweigens, der Halluzination und seltsamen Rede, der Feindseligkeit und Indifferenz, in jedem einzelnen Fall eine Person steckt, und dass, wenn wir gekonnt und geglückt vorgehen, diese Person erreichen können, oft nur in kurzen Momenten, aber in einer direkten Beziehung von Person zu Person. Für mich zeigt diese Tatsache etwas über das Wesen der Schizophrenie. Sie zeigt auch etwas über die Natur des Menschen und seine Sehnsucht nach und seine Angst vor einer tiefen menschlichen Beziehung. Sie scheint zu zeigen, dass menschliche Wesen Personen sind, auch wenn wir sie als schizophren oder was auch immer etikettieren.“ (Rogers et al. 1967, S. 191 f.).

 

Nach den Erfahrungen in dem Wisconsin-Projekt modifizierte Rogers seinen Ansatz. Die Fähigkeit zur Kongruenz und „Echtheit“ (genuineness) seitens der Therapeuten erhielt nun größeres Gewicht (vgl. Haugh 2001). Heutzutage gibt es mehrere störungsspezifische Ansätze für den stationären und ambulanten Bereich (Psychosen: Binder 1998; Traynor et al. 2011; Depressionen: Finke & Teusch 1999;  Panikstörungen: Teusch, Böhme & Gastpar 1997; Alkoholismus: Speierer 2000; Krampe & Ehrenreich 2012).

 

Positionen und Auszeichnungen

1946/47 Präsident der American Psychological Association.

1955 Nicholas Murray Butler Silver Medal (Columbia University).

1956 und 1972 Auszeichnungen der American Psychological Association.

1964 Humanist oft the Year, American Humanist Association.

Ehrendoktorwürden u.a. von der Gonzaga University, University of Cincinnati, University of Hamburg, University of Leiden, Northwestern University.

1987 Nominierung für den Friedensnobelpreis durch den Kongressabgeordneten Jim Bates.

 

Literatur

 

Binder, U. (1998): Empathy and Empathy Development with Psychotic Clients. In: B. Thorne, E. Lambers (Hg.): Person-Centred Therapy. A European Perspective. London: Sage, S. 216-230.

Cohen, D. (2000): Carl Rogers. A Critical Biography. London: Constable & Robinson.

Cornelius-White, J. H. D., R. Motschnig-Pitrik, M. Lux (2013; Hg.): Interdisciplinary Applications of the Person-Centered Approach. New York: Springer.

Elliott, W.R., M. Cooper (2011): Helpful factors and outcomes in person-centered therapy with clients who experience psychotic processes: therapists’ perspectives. In: Person-Centered and Experiential Psychotherapies 10, (2), S. 89-104.

Eckert J., E.-M. Biermann-Ratjen, D. Höger (2006): Gesprächspsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis. Berlin Heidelberg New York Tokyo: Springer.

Finke, J., L. Teusch (2007): Using a person-centred approach within a medical framework. In: M. Cooper, M. O'Hara, P.F. Schmid, G. Wyatt (Hg.): The handbook of person-centred psychotherapy and counselling. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 279-292.

Gaebel, W. (1984): Modifizierte Gesprächspsychotherapie im Rahmen der ambulanten Nachbehandlung schizophrener Patienten. In: Zeitschrift für personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie 3, S. 87-96.

Gahleitner, S. B., I. Maurer, E. Ploil, U. Straumann (Hg.) (2013): Personzentriert beraten: alles Rogers? Theoretische und praktische Weiterentwicklungen Personzentrierter Beratung. Weinheim: Beltz Juventa.

Gendlin, E.T. (1978): Focusing. New York: Bantam.

Gibbard, I., T. Hanley (2008): A five-year evaluation of the effectiveness of person-centred counselling in routine clinical practice in primary care. In: Counselling and Psychotherapy Research 8 (4), S. 215-222.

Groddeck, N. (2002): Carl Rogers. Wegbereiter der modernen Psychotherapie. Darmstadt: Primus.

Hinz. A., M. Behr (2002): Biografische Rekonstruktionen und Reflexionen - Zum 100. Geburtstag von Carl Rogers. In: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 33, (2), S. 197-210.

Haugh, S. (2001): A Historical Review of the Development of Congruence in Person-Centered Theory. In: Wyatt, G. (Hg.): Congruence – Roger's Therapeutic Conditions: Evolution, Theory and Practise. Ross-on-Wye: PCCS Books, S. 1-17.

Kirschenbaum, H.: The Life and Work of Carl Rogers. Ross-on-Wye: PCCS Books.

Krampe, H., H. Ehrenreich (2012): Therapeutische Allianz und multiple Beziehungsgestaltung im Kontext der Therapeutenrotation: Erfahrungen bei ALITA. In: Neurology, Psychiatry and Brain Research 18, S. 153-168.

Norcross, J.C. (2011): Psychotherapy that works. 2. Aufl. New York: Oxford University Press.

Rogers, C. R., R. Sanford (1984): Client-centered psychotherapy. In: H. Kaplan, B. Sadock (Hg.): Comprehensive textbook of Psychiatry. Baltimore: Williams & Wilkins, S. 1374-1388.

Rogers, C. R. (1967): The Findings in Brief. In: Rogers C. R., E. T. Gendlin, D. J. Kiesler, C. B. Truax, (Hg.): The Therapeutic Relationship and its Impact. A Study of Psychotherapy with Schizophrenics. Madison: The University of Wisconsin Press, S. 73-93.

Rogers, C.R. (1967a): Autobiography. In: E. G. Boring, G. Lindzey (Hg.): A History of Psychology in Autobiography. Vol. 5. New York: Appleton-Century-Crofts, S. 341-384.

Rogers C. R., E. T. Gendlin, D. J. Kiesler, C. B. Truax (1967, Hg.): The Therapeutic Relationship and its Impact. A Study of Psychotherapy with Schizophrenics. Madison: The University of Wisconsin Press.

Rogers, C. R. (1962): Some learnings from a study of psychotherapy with schizophrenics. In: Pennsylvania Psychiatric Quarterly 2, (2/3), S. 3-15.

Rogers, C. R. (1961): This is Me. In: C. R. Rogers: The Carl Rogers Reader. Hg. von H. Kirschenbaum, V. L. Henderson. New York: Houghton Mifflin 1989, pp. 6-29.

Rogers. C.R. (1959): A theory of therapy, personality and interpersonal relationships as developed in the client-centered framework. In: S. Koch (Hg.): Psychology: a study of a science. Bd. 3. Formulations of the person and the social context. New York: McGraw Hill, S. 184-256.

Rogers, C. R., B. F. Skinner (1956): Some issues concerning the control of human behavior. A symposium. In: Science 124, (No. 3231), S. 1057–1066.

Rogers, C. R. (1951). Client-centered therapy. Boston: Houghton. Mifflin Company.

Rogers, C.R. (1942): Counseling and psychotherapy. Newer concepts in practice. Oxford, England: Houghton Mifflin.

Rogers, C. R. (1939): The Clinical Treatment of the Problem Child. Boston, New York: Houghton Mifflin.

Rogers, C.R. (1931): Measuring personality adjustment in children nine to thirteen years of age. New York, Bureau of Publications, Teachers College, Columbia University.

Sachse, R. (2005): Von der Gesprächspsychotherapie zur Klärungsorientierten Psychotherapie: Kritik und Weiterentwicklung eines Therapiekonzeptes. Lengerich: Pabst.

Speierer, G.-W. (1994): Das differenzielle Inkongruenzmodell. DIM – Handbuch der Gesprächspsychotherapie als Inkongruenzbehandlung. Heidelberg: Asanger.

Straub, J. (2012; Hg.): Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie. Bielefeld: transcript.

Tausch, R. (1970): Gesprächspsychotherapie. Göttingen: Verlag für Psychologie.

Teusch, L., H. Böhme, M. Gastpar (1997): The benefit of an insight oriented and experiential approach on panic and agoraphobia symptoms: Results of a controlled comparison of client-centered therapy and a combination with behavioral exposure. In: Psychotherapy and Psychosomatics 66, S. 293-301.

Teusch, L., J. Finke (2002): Personzentrierte Psychotherapie in der Psychiatrie. In: W. Keil: Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie. Wien: Springer, S. 477-497.

 

Burkhart Brückner, Ansgar Fabri

 

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Zitierweise
Burkhart Brückner, Ansgar Fabri (2015): Rogers, Carl Ransom.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/4-carl-ransom-rogers
(Stand vom:30.12.2024)