- Nachname:
- E.
- Vorname:
- Franziska
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Geburtsort:
- Essen-Stoppenberg (DE)
- * 15.03.1919
E., Franziska
Insassin einer Erziehungsanstalt im Rheinland.
Franziska E. wurde am 15. März 1919 in Essen-Stoppenberg als Kind des Bergmannes Herrmann E. und seiner Frau Auguste Luise geboren. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern wohnte sie in einer 3-Zimmer-Wohnung. Die Wohnung war so eng, dass Franziska und ihre jüngeren Schwestern in einem Zimmer mit der ältesten Schwester Hedwig und deren Mann schlafen mussten. Ein Umstand, der die Jugendbehörden alarmierte, denn nach Ansicht des Jugendamtes „beobachten Franziska und ihre jüngeren Schwestern die intimsten Dinge zwischen diesen“ (ALVR 36054). Auch in sonstiger Hinsicht galt die Lebensweise der Familie als problematisch. Während der Vater bei der Arbeit gewesen sei, „schlafen die Kinder in den ganzen Tag hinein und abends gehen sie spazieren.“
Einweisung in die Fürsorgeerziehung
Noch bevor die Ehe der Eltern im Juli 1936 geschieden und die Mutter für allein schuldig erklärt wurde, ordnete das Amtsgericht Essen im Mai des Jahres die vorläufige Unterbringung der minderjährigen Franziska E. in der Fürsorgeerziehung an. Mit dem weiteren Verbleib in der Familie sei die „dringende Gefahr fortschreitender Verwahrlosung“ verbunden. Im Beschluss hieß es, dass „die Mutter ihren Kindern volle Freiheit lasse und die Kinder […] bis spät abends ihrem Vergnügen nach [gingen]. Franziska E. unterhalte „ein Verhältnis mit einem Neunzehnjährigen, der schon wiederholt mit Wissen der Mutter in ihrer Wohnung geschlafen habe.“ Sie selbst habe angegeben, „schon 2 mal mit ihrem Schwager verkehrt“ zu haben (ALVR 36054).
Am 29. Mai 1936 wurde Franziska E. für zwei Monate zur Beobachtung in das Aufnahmeheim St. Martin Bethesda in Boppard untergebracht und von dort im Juli in das Evangelische Fürsorgeheim in Ratingen verlegt. Dort wurde nach sechs Monaten Aufenthalt eine Sozialdiagnose erstellt, in der Franziska als „geistig stumpf und unbegabt“ dargestellt wurde. Weiter hieß es dort: „Franziska ist an dem Geschehen um sie herum völlig uninteressiert. In ihren Bewegungen ist sie schwerfällig und träge, hat keinen Gemeinschaftssinn, beteiligt sich nicht an den Spielen der Kameradinnen. Sie turnt auffallend ungern, muss immer erst dazu aufgefordert werden. In ihrem Benehmen ist sie oft ungezogen, launisch und mürrisch. Im Unterricht fällt es ihr sehr schwer, zu folgen, es können kaum Fortschritte verzeichnet werden.“ (Eintrag in der Erziehungsliste des Mädchenheims Ratingen vom 1. Januar 1937; ALVR 36054).
Psychiatrische Begutachtung und Sterilisationsanzeige
Im Januar 1937 wurde Franziska E. dem Landespsychiater Max Lückerath (1872-1937; vgl. Steinacker 2007, 107 f.; Kreuter 1996, Bd. 2, S. 895) vorgestellt, der zu entscheiden hatte, ob das Mädchen unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ falle und gegebenenfalls zur Sterilisation anzuzeigen sei. Nach seinem Besuch in Ratingen kam Lückerath zu folgendem Urteil: „Franziska aus Essen, geb. 15.03.1919; Eltern geschieden, Familie hat schlechten Ruf. Zwei Brüder des Vaters sind große Raufbolde. Mutter beschränkt. Mehrere Geschwister sind Hilfsschüler; hat selbst die Hilfsschule besucht. Später herumtreiben und Geschlechtsverkehr. Versagt so ziemlich auf allen Gebieten, Schulkenntnissen, Rechnen, Denkaufgaben (Begriffs- und Urteilsbildung). Stark debil, angeborener Schwachsinn, fällt unter § 1 Absatz 2 Ziffer 1 des Gesetzes vom 14.07.1933“ (M. Lückerath, 11. Januar 1937; ALVR 36054). Am 24. März 1937, rund zwei Monate nach der Untersuchung wurde die 18-Jährige zur Sterilisation angezeigt. Da das Fürsorgeheim Ratingen befürchtete, dass Franziska E. mit Vollendung ihres 19. Lebensjahres nicht mehr der Aufsicht der Fürsorgeerziehungsbehörde unterliegen wird, bat es im November um die beschleunigte Durchführung des Sterilisierungsverfahrens.
Das Leben im Heim
Da die Fürsorgeerziehung nach offizieller Lesart „keine Strafe“ darstellte, sondern eine „Erziehungsmaßnahme“, die „das Wohl des Minderjährigen im Auge haben“ sollte, versuchte das Mädchenheim, Franziska E. in den Heimalltag zu integrieren. Zunächst war sie im heimeigenen Wäscherei-Betrieb beschäftigt, später wurde sie in landwirtschaftlichen Arbeiten angelernt. Allerdings wurden ihre Leistungen als ungenügend beurteilt: „Ihre Arbeitsleistungen liegen weit unter dem Durchschnitt: im praktischen Haushaltungskursus waren sie genügend. Von den theoretischen Stunden musste sie ihrer Beschränktheit wegen ausgeschlossen werden.“ (Bericht des Evangelischen Mädchenheimes Ratingen vom 30. Juni 1938; ALVR 36054).
Obwohl Franziska E. sehr an Ihrer Familie hing und starkes Heimweh hatte, bestand der Kontakt zu ihrer Mutter lediglich in Form eines Briefwechsels. Der Schriftverkehr wurde zwar gestattet, aber von der Heimleitung sorgfältig überwacht und überprüft. Man befürchtete, dass die Mutter sie negativ beeinflusse und sie gegen das evangelische Mädchenheim Ratingen aufhetzen wolle. Auch zur Weihnachtszeit wurde sie nicht nach Hause beurlaubt, sondern musste im Heim bleiben. Besuche von Vater und Mutter wurden nicht gestattet.
Am 15. März 1938 wurde die Fürsorgeerziehung von Franziska E. „wegen Unerziehbarkeit (angeborener Schwachsinn)“ offiziell beendet. Allerdings bedeutete dieser Beschluss nicht das Ende ihres Anstaltsaufenthaltes. Statt in ihre Familie zurückzukehren, blieb sie im Mädchenheim Ratingen. Dort wurde sie bis zur Durchführung des Sterilisierungsverfahrens auf die „Abteilung für Schwachsinnige“ verlegt. Über das weitere Schicksal von Franziska E. ist nichts bekannt.
Quellen
Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Einzelfallakten Fürsorgeerziehung, Nr. 36054 [zitiert als ALVR 36054].
Literatur
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Gregor, A. (1934): Ergebnisse der Untersuchung von Fürsorgezöglingen zwecks Sterilisierung. In: Zeitschrift für psychische Hygiene 7, (2), S. 33-40.
Kahlfeld, R. (o.J.): Historischer Abriss [zum Findbuch im Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland] „Fürsorgeerziehung,Freiwillige Erziehungshilfe, Landesjugendamt bis 1945“.URL: http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW /jsp/findbuch.jsp?archivNr=133&id=012&tektId=39&bestexpandId=35
Kaminsky, U. (1995): Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945. Köln: Rheinland-Verlag.
Kappeler, M. (2000): Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit. Marburg: Schüren-Verlag.
Kuhlmann, C. (1989): Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen von 1933-1945. Weinheim/München: Juventa.
Peukert, D. J. (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung, Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge
von 1878-1932. Köln: Bund-Verlag.
Steinacker, S. (2011): Soziale Arbeit im Nationalsozialismus – „Auslese“ und „Ausmerze“ im Dienste der „Volkspflege“. In: K.-P. Horn, J.-W. Link (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 253-273.
Steinacker, S. (2007): Der Staat als Erzieher. Jugendpolitik und Jugendfürsorge im Rheinland vom Kaiserreich bis zum Ende des Nazismus. Stuttgart: ibidem.
Steinacker, S. (2008): „…fachlich sauber und im Geist des Nationalsozialismus…“ Volksgemeinschaftsideologie und Fürsorgeerziehung nach 1933. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 38, (5), S. 459-476.
Galina Heghmanns
Dieser biographische Text entstand im Lehrforschungsprojekt Spurensuche. Historisch-biografische Rekonstruktion von Heimkarrieren am Niederrhein am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein 2015 unter der Leitung von Sven Steinacker, Silke Schütter und Alexander Lamprecht. Der Name der porträtierten Person wurde pseudonymisiert.
Zitierweise
Heghmanns, Galina (2015):
E., Franziska.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/298-e-franziska
(Stand vom:09.12.2024)