- Nachname:
- Leibbrand
- Vorname:
- Werner Robert
- Epoche:
- 19. Jahrhundert
20. Jahrhundert - Arbeitsgebiet:
- Medizin
Psychiatrie
Medizingeschichte - Geburtsort:
- Berlin (DEU)
- * 23.01.1896
- † 11.06.1974
Leibbrand, Werner Robert
Deutscher Psychiater, Medizinhistoriker und Kulturwissenschaftler
Werner Robert Leibbrand (1896-1974) wurde am 23. Januar 1896 in Berlin geboren. Er war der Sohn des aus dem Schwäbischen stammenden, vermögenden Unternehmerehepaars Robert und Emilie (geb. Steinam) Leibbrand. Neben seiner umfassenden schulischen Erziehung erhielt er eine pianistische Ausbildung. Entgegen seinem Wunsch, einen künstlerischen Beruf zu erlernen, studierte er auf Drängen vor allem seines Vaters ab 1914 Medizin, sowie zusätzlich Philosophie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Ersten Weltkrieg war er als Feldunterarzt bei verschiedenen Truppenteilen eingesetzt. Er promovierte 1920 bei Ferdinand Blumenthal (1870-1941). Ab 1920 arbeitete Leibbrand als Assistenzarzt an den Kuranstalten Westend in Berlin-Charlottenburg, wo er sich zum Nervenarzt weiterbilden ließ. Danach war er in eigener nervenärztlicher Praxis tätig. Als seinen psychotherapeutischen Lehrer bezeichnete er Arthur Kronfeld (1886-1941), der ihn durch sein geradezu enzyklopädisches Wissen und sein soziales Engagement nachhaltig beeindruckte. Seine 1925 geschlossene erste Ehe mit der Sängerin Claire Streich wurde 1930 geschieden. 1932 heiratete Leibbrand Margarethe Bergius, geb. Sachs (1885-1962).
Berliner Fürsorgearzt und Verfolgung in der NS-Zeit
Während der 1920er Jahre etablierte Leibbrand gemeinsam mit Otto Juliusburger (1867 – 1952) ein psychiatrisches Fürsorgezentrum für Alkohol- und Drogenabhängige in den Berliner Stadtteilen Tiergarten und Wedding. Gemeinsam mit Magnus Hirschfeld (1868--1935) und Otto Juliusburger gründete er eine Vereinigung für medizinische Psychologie und engagierte sich politisch-humanitär im Verein sozialistischer Ärzte und in der Liga für Menschenrechte (Burgmair 2005 S. 20; Kudlien 1986, S. 338). Seit dieser Zeit begann Leibbrand sich zunehmend auch mit Medizingeschichte zu befassen. Bis zu Beginn des nationalsozialistischen Regime als Fürsorgearzt für das Gesundheitsamt Berlin-Tiergarten tätig, verlor er 1933 wegen ‚politischer Unzuverlässigkeit‘ seine Kassenzulassung sowie seine Funktionen im öffentlichen Gesundheitswesen. Überdies erklärte Leibbrand seinen Austritt aus dem Wilmersdorfer Ärzteverein, als dort die jüdischen Mitglieder ausgeschlossen wurden (Schumacher 1967, Vorwort, o.S.).
In den folgenden Jahren stellte Leibbrand Überlegungen an, nach England oder in die Schweiz zu emigrieren, setzte dieses Vorhaben jedoch nicht um. Mehr und mehr wandte sich Leibbrand der Medizingeschichte zu, wohl seine Form einer „inneren Emigration“ (Weber 2009, S. 408). In dieser Zeit (bis 1938) trafen sich, „häufig von Aktionen der Gestapo unterbrochen“, in der Wohnung der Leibbrands sog. „Katakombenkreise“, in denen Literatur und Philosophie diskutiert wurden (Leibbrand 1965, S. 858). Zu den Teilnehmern zählten u.a.: Romano Guardini (1885-1968), Ernesto Grassi (1902-1991), Richard Kroner (1884-1974), Walter Kranz (1884-1960), Kurt Riezler (1882-1955), Mathias Wieman (1902-1969) und Konrat Ziegler (1884-1974).
Anfang der 1940er Jahre hatte Leibbrand seine Praxis aufgegeben und als Leitender Arzt am katholischen Krankenhaus St. Hildegard in Berlin-Frohnau gearbeitet. 1943 wurde er wegen seiner jüdischen Frau als „jüdisch Versippter“ in der Funktion eines Assistenzarztes an die Nürnberger Nervenklinik zwangsverpflichtet. Aufgrund zunehmender Konflikte, gerade auch mit nationalsozialistisch gesinnten Kollegen, tauchte Leibbrand gemeinsam mit seiner Ehefrau in die Illegalität ab. Das Paar, das bis zum Ende des Krieges in verschiedenen Verstecken lebte, wurde in jener Zeit durch die Erlanger Klinikärztin Annemarie Wettley (1913-1996) unterstützt. Sie verhalf den Untergetauchten nicht nur zu Verstecken und fungierte für sie als Briefadresse, sondern zweigte für sie wohl auch aus der Krankenhausversorgung Lebensmittelrationen ab (Mildenberger 2005, S. 123; Wiesinger 2014, S. 60 ff.).
Nachkriegszeit und Professur für Medizingeschichte
Unmittelbar nach Kriegsende wurde Leibbrand als zweifellos „politisch Unbelasteter“ zum neuen Direktor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt ernannt. Daneben lehrte er als Honorarprofessor Medizingeschichte an der dortigen Universität. Leibbrand avancierte zu einer der maßgeblichen Vertrauenspersonen der Alliierten in Angelegenheiten der Entnazifizierung. Während des Nürnberger Ärzteprozesses war er als einziger deutscher Arzt als Gutachter der Anklage zugelassen (Schmuhl 1987, S. 13).
Nachdem Leibbrand bereits in Erlangen den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin wiederbegründet hatte, folgte er 1953 als Nachfolger von Martin Müller (1878-1960) einem Ruf auf das Extraordinariat für Geschichte der Medizin nach München. Nach München wurde er begleitet von seiner Assistentin Wettley, die mehr und mehr die Rolle seiner Lebensgefährtin einnahm und 1962 nach dem Tod von Margarethe Bergius Leibbrand seine Ehefrau und wichtigste wissenschaftliche Wegbegleiterin wurde (Weber 2009, S. 409).
Zwischen 1955 und 1973 unterrichtete Leibbrand gemeinsam mit Wettley in den Sommermonaten regelmäßig an der Pariser Universität Sorbonne (Mildenberger 2006, S. 99). Er erhielt 1958 in München die Stellung eines Ordinarius, nach der Emeritierung 1964 behielt er die kommissarische Leitung des Instituts und vertrat das Fach bis Ende 1966. Wegen des unerwartet frühen Todes seines Nachfolgers Gernot Rath (1919-1967) musste Leibbrand erneut einspringen und konnte sich erst 1969 vom Lehramt und der Institutsleitung zurückziehen, als Heinz Goerke (1917-2014) seine Nachfolge antrat. Leibbrand betreute seine Doktoranden weiter und hielt Seminare ab. Bis 1973 lehrte er regelmäßig an der Pariser Sorbonne. Er starb am 11. Juni 1974 in München.
Gesellschaftliches Engagement und wissenschaftliches Werk
Leibbrand war ein in vieler Hinsicht untypischer Vertreter der deutschen Ärzteschaft. Während der Weimarer Republik gehörte er dem Verein sozialistischer Ärzte und der internationalen Liga für Menschenrechte an, beides linke, pazifistisch ausgerichtete Organisationen. Dem Dilemma einer zunehmenden Umorientierung vom Wohl des kranken Individuums hin zum Wohl des Kollektivs begegnete Leibbrand mit einer konsequenten Ablehnung gegenüber dem Regime; damit wich er deutlich vom vorherrschenden Verhalten eines Großteils seiner Fachkollegen während des Nationalsozialismus ab. Durch Abänderung von Diagnosen versuchte Leibbrand, seine Patienten vor der Zwangssterilisation zu bewahren (Seidel 2013, S. 1044).
Seine ersten medizinhistorischen Arbeiten veröffentlichte er als niedergelassener Psychiater in Berlin – zunächst zu psychiatriehistorischen und pathographischen Aspekten. In außerordentlicher Breite ging er in seinen Forschungen der Genese und Rezeption des Eros-Begriffs nach, und zwar bis hin zur Entstehung der Sexualwissenschaften. In seinem Buch Romantische Medizin versuchte er auf der Grundlage vielfältiger philosophischer Quellen eine geistesgeschichtliche Würdigung des Krankheitsbegriffes im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der romantischen Philosophie zu geben. Er forderte darin eine „Ganzheitsbetrachtung der ärztlichen Kunst“ (Leibbrand 1937, S. 193) mit dem Ziel der Überwindung einer rein positivistischen Auffassung der Krankheit einzelner Organe.
1960 publizierte Werner Leibbrand gemeinsam mit Annemarie Wettley das umfangreiche psychiatriehistorische Standardwerk Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Einem antizipierten Subjektivitätsvorwurf begegneten beide im Vorwort mit Lessings Ausspruch „daß Wahrheit ... stets nur annähernd gefunden werden[könne]“ (Leibbrand & Wettley 1960, Vorwort, o.S.). Der französische Psychiater Henri Baruk (1897-1999) schrieb über dieses weit ausholende Werk: „Cette œuvre montre … qu´il est possible de réunir dans une synthèse puissante la connaissance parfaite et détaillée de la psychiatrie, de l´histoire, et en particulier de l´histoire des sciences [Dieses Werk zeigt, ... dass es möglich ist, in einer gelungenen Synthese Kenntnisse der Psychiatrie, der Geschichte und vor allem der Wissenschaftsgeschichte perfekt und detailliert zu vereinen.“] (Baruk 1963, S. 284).
1964 stellte er als erster deutscher Medizinhistoriker in der deutschsprachigen Fachwelt Michel Foucaults Histoire de la folie (1961, in dtsch. erschienen als Wahnsinn und Gesellschaft) und La Naissance de la clinique (1963; dtsch. Die Geburt der Klinik) vor und würdigte dessen archivalische Studien und philosophische Überlegungen (Mildenberger 2006, S. 97).
Leibbrand versuchte stets, die Grenzen zwischen der Medizingeschichte und der Ideen- bzw. Kulturgeschichte zu überwinden und strebte eine weitreichende philosophische Fundierung der ärztlichen Wissenschaft an (Leibbrand 1939 u. 1953; Wallrath-Janssen 2007, S. 87). Seine späteren historischen Forschungen sind ohne die strukturierende und quellenorientierte Zusammenarbeit mit Annemarie Wettley kaum denkbar (Weber 2009 S. 411). Trotz seiner internationalen wissenschaftlichen Vernetzung blieb Leibbrand nicht nur wegen seines eindeutigen politischen Engagements nach 1945 in der Bundesrepublik isoliert (Weber 2009, S. 409). Sein Werk wurde im deutschen Sprachraum eher verhalten wahrgenommen.
Medizinethische Positionen
Als Sachverständiger für Fragen der ärztlichen Ethik beim Nürnberger Ärzteprozess setzte sich Leibbrand für die Rechte von psychiatrischen Patienten ein. In kritischer Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Physiologen Andrey C. Ivy (1893-1978) ging er in den Kreuzverhören auf einzelne Passagen des hippokratischen Eids ein. Insbesondere widmete er sich der Frage, inwieweit der Arzt als Wissenschaftler nicht auch denselben ethischen Maßstäbe zu genügen habe, wie der praktisch tätige Arzt. Leibbrand (1946) hatte als einer der Ersten zu den Patiententötungen im Nationalsozialismus dezidiert Stellung genommen. In seinem Essay Naturrecht und Fürsorge benannte er als Basis psychiatrischen Handelns nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern zunächst und vorrangig die menschliche Freiheit (Seidel 2014, S. 15).
Gegenüber jeglichen Menschenexperimenten nahm er eine restriktive Haltung ein und lehnte sie kategorisch ab, wenn sie nicht der Gesundheit des Probanden direkt dienten (Tröhler 1997, S. 20; Seidel 2013 S. 1044). Diese kompromisslose Position unterstrich Leibbrand gegenüber dem Anwalt von Hitlers Begleitarzt und Hauptangeklagter im Nürnberger Ärzteprozess Karl Brandt (1904-1948): „Zwischen der kollektiven Idee und einer staatlichen Anordnung einerseits und dem ärztlichen Individuum andererseits steht etwas sehr Wesentliches (...): das menschliche Gewissen“ (Leibbrand 1946/47, zit. nach Seidel 2013, S. 1046).
Bereits 1946 veröffentlichte er den Band Um die Menschenrechte der Geisteskranken, in dem in mehreren Beiträgen Voraussetzungen und Folgen der Patientenmorde in der NS-Psychiatrie behandelt wurden. Seine Äußerungen und Publikationen machten Leibbrand zu Zielscheibe von Anfeindungen. Für sein Engagement in der Aufklärung der Verbrechen der NS-Medizin wurde er intensiv von Kollegen kritisiert (Wiesinger & Frewer 2014, S. 56). Für Werner Leibbrand war das „In-die-Irre-gehen“, das Verrückt-sein, ein Ausdruck der uns gegebenen Freiheit – eine Position, die er immer wieder, nicht nur als Gutachter im Nürnberger Ärzteprozess, gegen manchen Wiederstand vertrat. In psychischen Störungen sah er daher nicht einfach eine Abweichung des biopsychosozialen Funktionierens im sozialen Kontext, sondern eine menschliche Möglichkeit, die zugleich einen Grund humaner Würde markiere. Auf diesem Weg stellte Leibbrand einem weitgehend utilitaristischen, am zu erwartendem Nutzen orientierten Fachverständnis, eine anthropologisch fundierte Medizin entgegen (Seidel 2014, S. 15 f.).
Literatur
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Burgmair, W. (2005): „Mein wissenschaftlicher Beruf ist der eines Psychiaters und Medizinhistorikers...“. Eine Einführung zu Leben und Werk von Werner Robert Leibbrand. In: Unschuld, P. U., M. M. Weber, W. G. Locher (Hg.): Werner Leibbrand (1896–1974). „…ich weiß, daß ich mehr tun muß, als nur ein Arzt zu sein …“. Germering-München: Zuckschwerdt, S. 15-51.
Frewer, A. (2008): Medizingeschichte und ‚Neue Ethik‘ in Berlin. Fachpolitik, NS-Disziplin und SS-Moral (1939 – 1945). In: S. Schleiermacher, U. Schagen (Hg.): Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus. Paderborn: Schönigh, S. 85-104.
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Kudlien, F. (1986): Werner Leibbrand als Zeitzeuge. Ein ärztlicher Gegner des Nationalsozialismus im Dritten Reich. In: Medizinhistorisches Journal 21, (3/4), S. 332-352.
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Ralf Seidel, Felicitas Söhner
Zitierweise
Ralf Seidel, Felicitas Söhner (2016):
Leibbrand, Werner Robert.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
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(Stand vom:17.11.2024)