- Nachname:
- Matthews
- Vorname:
- James Tilly
- Epoche:
- 18. Jahrhundert
19. Jahrhundert - Arbeitsgebiet:
- Sonstige
- * 01.01.1770
- † 10.01.1815
Matthews, James Tilly
Anstaltsinsasse im Londoner Bethlem Hospital.
James Tilly Matthews (1770-1815) war ein verheirateter englischer Teegroßhändler und Vater von zwei Kindern. Bekannt wurde er im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Fallberichts über ihn von John Haslam (1810), dem Apotheker im Londoner Royal Bethlem Hospital. Haslams Bericht Illustrations of Madness enthielt ein umfangreiches Selbstbekenntnis von Matthews, das dieser 1804 auf Haslams Bitte schrieb (vgl. Porter 1988; 1987, S. 54 f.). Beide Texte, sowohl der Bericht von Matthews als auch der von Haslam, dokumentieren für das 19. Jahrhundert typische Themen der Reden im oder über den Wahnsinn.
Politische Mission und Entgleisung
Matthews Selbstbericht beginnt im Jahr 1793 mit der Schilderung einer Reise ins revolutionäre Frankreich im Rahmen einer politischen Mission. Andere Quellen belegen, dass er seinen Bekannten David Williams nach Paris begleitete, der sich am Entwurf einer Verfassung beteiligen sollte und den Girondisten, Außenpolitiker und Mesmeristen Jacques-Pierre Brissot kannte (Howard 1991; Williams 1938). Matthews pendelte zwischen London und Paris und geriet zwischen die Fronten, als Frankreich am 1. Februar 1793 England den Krieg erklärte. Er kam in Paris in den Verdacht, ein Doppelagent zu sein, wurde verhaftet und blieb unter der Bedrohung, enthauptet zu werden, im Gefängnis. Nach drei Jahren wurde er entlassen.
Kurz nach seiner Rückkehr versuchte er, im März 1796 die britische Regierung über ein angebliches Komplott zu informieren: „Während ich in Paris durch die damals bestehende französische Regierung während der Jahre 1793-4-5 bis Anfang 1796 inhaftiert war, hatte ich eben in deren früher Phase genügend Informationen, um sicher zu sein, dass ein richtiger Plan existiert und von Personen in Frankreich gefördert wird, die mit Personen in England in Verbindung standen, um sowohl jedes Geheimnis der britischen Regierung den Franzosen zu verraten als auch um Großbritannien und Irland zu einer Republik zu machen, und besonders um die britische Flotte zu desorganisieren und in ihr eine derartige Unordnung zu schaffen, dass die französische Kriegsmacht sich ohne Gefahr bewegen könne.“ (Matthews 1804, S. 46, unsere Übersetzung).
Im September und Dezember 1796 schrieb Matthews zwei Briefe an den Abgeordneten und Außenpolitiker Lord Liverpool (1770-1828), in denen er den britischen Innenminister des Verrates anklagte (Porter 1988, S. XVI ff.) Seine Anschuldigungen wurde jedoch zurückgewiesen. Ende Oktober störte Matthews eine Sitzung des Unterhauses mit Zwischenrufen über die „perfide Bestechlichkeit“ der Regierung. Drei Monate später wurde er am 27. Januar 1797 in das Londoner Bethlem Hospital eingewiesen, in dem er fast bis zu seinem Tode 1815 verblieb (Porter 1987a, S. 239).
Anstaltsaufenthalt
Am 28. Januar 1797 wurde Matthew in Bethlem erstmals untersucht und ein knappes Jahr später, ab dem 21. Januar 1798, in der Abteilung für „Unheilbare“ untergebracht. Seine Verwandten forderten 1809 mit einem Habeas-Corpus-Verfahren seine Entlassung und engagierten hochrangige Gutachter, um seine geistige Gesundheit zu beweisen (u.a. die Ärzte George Birkbeck und Henry Clutterbuck). Daraufhin wurde eine Kommission aus mehreren Ärzten des Bethlem Hospitals eingesetzt, um die Rechtmäßigkeit des Unterbringungsbeschlusses zu belegen. Haslam (1810, S. 15) insistierte, dass die Ärzte des Hospitals zwischen Gesundheit und Wahnsinn unterscheiden können und dass sich der Teehändler in seinen Bekenntnissen zwingend als geisteskrank präsentiere. Matthews blieb aufgrund der Entscheidung der Kommission interniert (Haslam 1810, S. 4).
In den folgenden Jahren lernte er technisches Zeichnen und präsentierte nach einer öffentlichen Ausschreibung am 1. April 1811 Vorschläge für den geplanten Neubau des Hospitals, die von der Jury mit einem Anerkennungspreis bedacht wurden (Howard 1990). Im Oktober 1812 gründete er das kurzlebige Architekturmagazin Useful Architecture. 1813 forderten seine Angehörigen erneut seine Entlassung. 1814 wurde er schließlich in ein privates Irrenhaus in London eingewiesen („Fox's London House"). Der Leiter Dr. Fox erachtete Matthews offenbar als geistig gesund, jedoch ohne ihn zu entlassen. Matthews half bei der Buchhaltung in der Anstalt und der Gartenarbeit bis zu seinem Tod am 10. Januar 1815.
Der Luftwebstuhl
In seinem von Haslam in Auszügen veröffentlichten Selbstbericht behauptete Matthews, er sei von einer „Bande" feindlicher Verschwörer umgeben, bestehend aus sieben namentlich bekannten Männern und Frauen. Sie würden ihn und seine Handlungen mittels eines magnetischen Fluidums aus der Ferne beeinträchtigen und steuern. Die Täter besäße einen sogenannten „Luftwebstuhl“ („Air loom“) zur Erzeugung von „pneumatischen“ Kräften sowie Dünsten von „Schwefel“, „Salzsäure“, „Kloaken“ und „Krötengift“ (Haslam 1810, S. 28). Die Gase würden die Opfer vorzugsweise im Schlaf erreichen und schädigen. Die Beeinflussungsmaschine bestehe aus einer Kombination mechanischer, pneumatischer, hydraulischer und elektromagnetischer Elemente (u.a. Hebel, Rohre, Ventile, Batterien, Gaszylinder), die den Stand der damaligen Technik um 1800 widerspiegelten. Die Begriffe, die Matthew zur Beschreibung der Maschine gebrauchte, erinnerten an wissenschaftliche und mesmeristische Kategorien (z. B. „impregnation“, „sympathy“, „sympathetic communication“; Fuchs 2015, S. 129). Um die Täter festzunehmen, lobte Matthews hohe Belohnungen aus und forderte, alle ihre Unterstützer einschließlich der Regierungsbeamten und des Königs zu internieren und zu töten. Sein Selbstbericht sollte die Öffentlichkeit über die Ereignisse informieren.
1815, im Todesjahr von James Tilly Matthews, wurde eine weitere Untersuchungskommission eingesetzt, die den Fall in neuem Licht betrachtete (Commitee of the House of Commons 1815, S. 51 ff.). Haslam habe Matthews‘ Zustand zu einseitig beurteilt und unzulässige Zwangsmittel benutzt. Zusammen mit dem Arzt Thomas Monro wurde Haslam 1816 entlassen.
Rezeption
In Deutschland kommentierte Christian Friedrich Nasse bereits 1818 Auszüge von Matthews Selbstbericht. Über siebzig Jahre später erschien 1889 die bislang einzige vollständige deutsche Übersetzung unter dem Titel Erklärungen der Tollheit (Haslam 1810/1889). Der Übersetzer und Herausgeber Franz Wollny (1890) ergriff unter dem Eindruck der zeitgenössischen Debatten über den Hypnotismus konsequent Partei für Matthews (siehe Brückner 2007, S. 16 f.). In der psychiatrischen Literatur wurde der Fall selten erwähnt (Griesinger 1845/1861, S. 343; Behr 1895; Jaspers 1913/1946, S. 48). Meyer und Meyer haben ihn erst 1969 ausführlicher dargestellt. In England gab Roy Porter 1988 Haslams Schrift neu heraus. Mike Jay verfasste 2003 eine viel beachtete literarische Monographie über Matthews. 2006 zeigte das Heidelberger Museum Sammlung Prinzhorn die Ausstellung „AIR LOOM – Der Luft-Webstuhl und andere Beeinflussungsapparate“ samt einer Rekonstruktion des Beeinflussungsapparates (Röske & Brand-Claussen 2006).
Literatur
Behr, A. (1895): Über die schriftstellerische Tätigkeit im Verlaufe der Paranoia. In: Sammlung klinischer Vorträge N.F. 13, S. 370-394.
Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Band 2. 19. Jahrhundert – Deutschland. Hürtgenwald: Guido Pressler.
Carpenter, P.K. (1989): Descriptions of Schizophrenia in the Psychiatry of Georgian Britain: John Haslam and James Tilly Matthews. In: Comprehensive Psychiatry 30, (4), S. 332-338.
Committee of the House of Commons (1815): Report, from the Committee of the House of Commons, On Madhouses in England; together with Minutes of Evidence, and an Appendix. London: Parliament, House of Commons.
Fuchs, T. (2015): Being a Psycho-Machine. Zur Phänomenologie der Beeinflussungsmaschinen. In: M. Schetsche, R. B. Schmidt (Hg.): Fremdkontrolle. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 127-143.
Griesinger, W. (1845/1861): Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. 2. Aufl. Stuttgart: Krabbe.
Haslam, J. (1810): Erklärungen der Tollheit, welche einen eigentümlichen Fall von Wahnsinn und einen nicht minder merkwürdigen Unterschied in der ärztlichen Begutachtung vorführen. Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen und mit einigen begleitenden und erläuternden Anmerkungen versehen von Dr. phil. F. Wollny. Leipzig: Wigand.
Haslam, J. (1810): Illustrations of Madness. Exhibiting a Singular Case of Insanity, and No Less Re-markable Difference in Medical Opinion: Developing the Nature of Assailment, and the Manner of Working Events; With a Description of the Tortures Experienced by Bomb-bursting, Lobster-cracking and Lengthening the Brain. London. G. Hayden.
Haslam, J. (1810/1988): Illustrations of Madness. Edited with an Introduction by Roy Porter. London: Routledge 1988
Hirjak, D., T. Fuchs (2010): Delusions of technical alien control: a phenomenological description of three cases. In: Psychopathology 43, (2), S. 96-103.
Howard, R. (1990): Useful or useless architecture? A dimension of the relationship between the Georgian schizophrenic James Tilly Matthews and his doctor, John Haslam. In: Psychiatric Bulletin 14, (10), S. 620–622.
Howard, R. (1991): James Tilly Matthews in London and Paris 1793: his first peace mission - in his own words. In: History of Psychiatry 2, (5), S. 53-69.
Jaspers, K. (1913/1946): Allgemeine Psychopathologie. 4. Auflage. Berlin: Springer.
Jay, M. (2003): The Air Loom Gang. The Strange and the True Story of James Tilly Matthews and His Visionary Madness and His Confinement in Bethlem. London, Ney York, Toronto, Sydney, Auckland: Bantam Press.
Jay, M. (2007): The Shadow of the Air Loom. In: Fortean Times, (228), S. 52-54.
Matthews, J. T. (1804): [ohne Titel]. In: J. Haslam: Illustrations of Madness. London 1810, S. 42-51 und 59-79.
Meyer, J. E., R. Meyer (1969): Selbstzeugnisse eines Schizophrenen um 1800. In: Confinia Psychiatrica 12, S. 130-143.
Nasse, F. (1818): Auszüge [aus J. Haslam: Illustrations of Madness]. In: Zeitschrift für psychische Ärzte 1, (1), S. 141-158.
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Porter, R. (1987): Mind-Forg´d Manacles. A History of Madness in England from the Restoration to the Regency. London.
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Stingelin, M. (2002): Hypnotische Experimente zwischen Hysterie und Paranoia. In: T. Hahn, J. Person, N. Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910. Frankfurt am Main, S. 255-292.
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Wollny, F. (1890): Bestätigung der Erklärungen der Tollheit. Ein Vademecum für die Recensenten der Haslam´schen Schrift und ihre Meinungsgenossen. Leipzig: Wigand.
Burkhart Brückner, Jessica Thönnissen
Foto: "Illustrations of Madness" by John Haslam, 1810 / Quelle: Wikimedia / Lizenz: public domain.
Zitierweise
Burkhart Brückner, Jessica Thönnissen (2016):
Matthews, James Tilly.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/232-matthews-james-tilly
(Stand vom:17.11.2024)