Kerner, Justinus Andreas Christian
Nachname:
Kerner
Vorname:
Justinus Andreas Christian
Epoche:
19. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Medizin
Psychosomatik
Geburtsort:
Ludwigsburg (DEU)
* 18.09.1786
† 21.02.1862
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Schwäbischer Arzt und Dichter des frühen 19. Jahrhunderts.

 

Justinus Andreas Christian Kerner (1786-1862) wurde als jüngstes von sechs Kindern des Oberamtmannes und Regierungsrates Christoph Ludwig Kerner und Friederike Luise Kerner im schwäbischen Ludwigsburg geboren. Nach dem Besuch der Schule in Ludwigsburg wurde er an der Maulbronner Klosterschule unterwiesen. Als Kind lernte er den Dichter Friedrich Schiller kennen (Ellenberger 1970/1996, S. 127). Als Folge seiner Heilung von einem nervösen Leiden durch einen Magnetiseur im Alter von 12 Jahren erwachte sein Interesse am Geistigen und er reklamierte fortan die Gabe prophetischen Träumens für sich (Brückner 2007, S. 44).

 

Nach dem Tod des Vaters 1799 nahm Kerner auf Veranlassung der Mutter eine Kaufmannslehre im Kontor der herzoglichen Tuchfabrik in Ludwigsburg auf. Während dieser Zeit begann er zu dichten, zudem soll er die Patienten des im selben Gebäude untergebrachten Irrenhauses durch das Spiel seiner Maultrommel unterhalten haben. Der Dichter und Professor für alte Sprachen Karl Philipp Conz, Theologe und vormals Lehrer Kerners, überzeugte dessen Mutter, Kerner studieren zu lassen. Ab 1804 studierte Kerner bis zu seiner Promotion im Jahr 1808 Medizin in Tübingen.

Während dieser Zeit interessierte er sich für die Literatur der Romantik und befreundete sich mit Vertretern der schwäbischen Dichterschule (u. a. Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Karl Mayer), zu denen er selbst gezählt wird. Als Medizinstudent beaufsichtigte er vorübergehend Friedrich Hölderlin im Auftrag des behandelnden Arztes Johann Heinrich Ferdinand von Autenrieth (Schlimme & Gonther 2010, S. 84 ff.). 1807 lernte er Friederike Ehmann (1786-1854) kennen, die er 1813 heiratete. Aus der Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor.

 

Im Anschluss an die Promotion unternahm Kerner eine ausgedehnte Bildungsreise nach Hamburg, Berlin und Wien, auf der er u. a. Fouqué, Chamisso, Dorothea und Friedrich Schlegel und Beethoven kennenlernte. 1810 nahm er seine ärztliche Tätigkeit auf und war zunächst in Dürrmenz, dann ab 1811 als Badearzt in Wildbad und ab 1812 als praktischer Arzt in Welzheim tätig. Ab 1815 Oberamtsarzt, sah er 1816 den jungen Friedrich Krauß, der 1852 mit seinem Buch Nothschrei eines Magnetisch-Vergifteten ein  bemerkenswertes Werk über angeblich „magnetisch“ induzierte Leidenszustände aus seiner Sicht eines anstaltserfahrenen Patienten veröffentlichte. Kerner (1824, S. 220-426) publizierte acht Jahre später die erste bekannt gewordene Fallbeschreibung zu Krauß. Ab 1819 praktizierte er im württembergischen Weinsberg, wo er bis zu seinem Tod 1862 wohnte. 1822 ließ er für seine Familie die noch heute als „Kernerhaus“ bekannte Villa in Weinsberg errichten, die zu einem geistigen Zentrum Württembergs wurde.

 

Die Seherin von Prevorst

Ab November 1826 behandelte Kerner die nach einer unglücklichen Liebe an einer unerklärlichen Krankheit leidende Friedericke Hauffe aus dem Dorf Prevorst. Nach dem missglückten Versuch ihrer Heilung auf konventionelle Weise führte er „magnetische Streiche“ durch, woraufhin sich der Zustand der empfindlichen jungen Frau zu bessern schien. Von 1827 bis zu ihrem Tod 1829 verblieb Hauffe im Kernerhaus. Kerner untersuchte sie gründlich und behandelte sie – beraten durch eine Gruppe von Philosophen und Theologen – systematisch experimentierend. Hauffe offenbarte anscheinend Fähigkeiten als Medium und Wahrsagerin und erregte deutschlandweit größtes Interesse. Philosophen und Theologen wie Schelling, Eschenmayer und Schleiermacher besuchten das Kernerhaus. Kurz nach Hauffes Tod veröffentlichte Kerner 1829 ihre Geschichte unter dem Titel Die Seherin von Prevorst. Sein spiritistisches Konzept löste einen weit reichenden, kontroversen Diskurs aus. Das mehrfach neu herausgegebene Buch wurde aufgrund der okkulten Behandlungskonzepte sowie einer Vielzahl von „inneren und äußeren Widersprüchen“ (Zeller 1830, S. 159) scharf angegriffen und gilt andererseits als Vorläufer psychodynamischer Abhandlungen (Ellenberger 1970/1996, S. 130; Grüsser 1987). Nachfolgende Briefe und Berichte über ähnliche Phänomene veröffentlichte Kerner in den vermutlich ersten hauptsächlich der Parapsychologie gewidmeten Zeitschriften, den Blättern von Prevorst (1831-1839) und dem Magikon (1840-1853).

 

Weiteres Lebenswerk

Kerners Interesse am „Heilmagnetismus“ und an der Person Franz Anton Mesmers führten ihn an dessen Todesstätte in Meersburg, wo er Dokumente und Informationen aus erster Hand sammelte und auf dieser Basis 1856 Mesmers Lebensgeschichte publizierte. Im Rahmen seiner ärztlichen Tätigkeit beschrieb er bereits 1822 erstmals eine heute als Botulismus bekannte, spezifische Form der bakteriellen Nahrungsmittelvergiftung und unternahm Tierexperimente mit der pathogenen Substanz. In Zusammenarbeit mit Uhland, Fouqué und Schwab erstellte er zwei Sammelwerke, den Poetischen Almanach für das Jahr 1812 und den Deutschen Dichterwald. Kerners zunehmende Erblindung ab 1851 führte zur Schöpfung der sogenannten „Klecksographien“: Tintenflecke auf Papier, dessen Faltung aus den Flecken abstrakte Figuren erzeugte, die Kerner bis 1857 im sogenannten „Hadesbuch“ zusammenstellte und 1890 postum veröffentlicht wurden. Sie wurden später zur Inspiration für Hermann Rorschach und seine Entwicklung des Rorschach-Tests.   

 

Kerners Wohnhaus in Weinsberg ist seit 1908 für die Öffentlichkeit zugänglich und beherbergt ein Museum. Seit 1979 wird die Justinus-Kerner-Medaille vom Ärzteverband Öffentlicher Gesundheitsdienst in Baden-Württemberg verliehen.

 

Literatur

Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 2. Das 19. Jahrhundert – Deutschland. Hürtgenwald: Pressler.

Ellenberger, H. F. (1970): Die Entdeckung des Unbewußten. Zürich: Diogenes 1996.

Grüsser, O.-J. (1987): Justinus Kerner. 1786-1862. Berlin: Springer.

Kerner, J. (1812): Poetischer Almanach für das Jahr 1812. Heidelberg: Braun.

Kerner, J. (1813): Deutscher Dichterwald. Tübingen: Heerbrandt.

Kerner, J. (1822): Das Fettgift oder die Fettsäure und ihre Wirkungen auf den thierischen Organismus. Ein Beytrag zur Untersuchung des in verdorbenen Würsten giftig wirkenden Stoffes. Stuttgart: Cotta.

Kerner, J. (1824): Geschichte zweyer Somnambülen. Karlsruhe: Braun.

Kerner, J. (1829) Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen, und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsrige. 2 Bde. Stuttgart: Cotta.

Kerner, J. (1849): Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Erinnerungen aus den Jahren 1786-1804. Braunschweig: Vieweg.

Kerner, J. (1856): Franz Anton Mesmer aus Schwaben. Entdecker des thierischen Magnetismus. Erinnerungen an denselben nebst Nachrichten von den letzten Jahren seines Lebens zu Merseburg am Bodensee. Frankfurt am Main: Literarische Anstalt.

Kerner, J. (1890): Klecksographien. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.

Krauß, F. (1852): Nothschrei eines Magnetisch-Vergifteten. Stuttgart: Selbstverlag.

Schlimme, J. E., U. Gonther (2010): Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. In: U. Gonther, J. E. Schlimme (Hg.): Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 25. Bonn: Psychiatrieverlag, S. 51-110.

Schott, H. (1985; Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Stuttgart: Steiner.

Zeller, A. (1830): Das verschleierte Bild zu Sais oder die Wunder des Magnetismus. Leipzig: Weidemann.

 

Catharina Bonnemann

 

Foto: Ottavio d'Albuzzi († 1855) / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain].

 

Zitierweise
Catharina Bonnemann (2015): Kerner, Justinus Andreas Christian.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/185-kerner-justinus-andreas-christian
(Stand vom:19.04.2024)