- Nachname:
- Ideler
- Vorname:
- Karl Wilhelm
- Epoche:
- 19. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Psychiatrie
Anthropologische Psychiatrie - Geburtsort:
- Bentwisch (DEU)
- * 25.10.1795
- † 29.07.1860
Ideler, Karl Wilhelm
Psychiater, Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Charité Berlin.
Lebensweg
Karl Wilhelm Ideler (1795-1860) wurde als Sohn eines Pfarrers in Bentwisch in der Mark Brandenburg geboren. Nach dem frühen Tode seines Vaters wuchs Ideler in Berlin bei einem Onkel auf, einem bekannten Mathematikprofessor (Benzenhöfer 1993, S. 132). 1811 erfolgte die Aufnahme in das Medico-Chirurgische Institut zu Berlin und 1815 erlebte er als Kompaniechirurg im preußischen Heer den Einzug nach Paris. 1820 promovierte er über die Physiologie der Nerven (De principio nervorum activo imponderabili). Im Anschluss folgten Jahre ärztlicher Praxis in Bernau, Rathenow und Genthin, bevor er 1828 die Leitung der Irrenabteilung der Charité Berlin übernahm (Schipperges 1962, S. 10). Am 6. August 1831 habilitierte sich Ideler mit einem psychiatrischen Thema (De moxae efficacia in animi morborum medela) und wurde 1839 außerordentlicher Professor an der Berliner Universität. 1840 erhielt er eine ordentliche Professur und wurde Direktor der neu eingerichteten Psychiatrischen Klinik. Dieses Amt führte er bis zu seinem Tod 1860 (vgl. Haack & Kumbier 2004).
Frühe anthropologische Psychiatrie
Ideler konzeptualisierte den Wahnsinn als Folge und Extremform der Leidenschaften: „Bei mangelnder Kontrolle der Gemütstriebe durch den Verstand entstünden Leidenschaften, bei fortgesetzter Aktivität der Leidenschaften Wahnsinn“ (Benzenhöfer 1993, S. 143). Diese bereits in seinem ersten Werk Anthropologie für Ärzte von 1827 formulierte Idee arbeitete Ideler in seinem 1.800 Seiten umfassenden Hauptwerk Grundriss der Seelenstörungen (2 Bde., 1835 und 1838) systematisch aus. Dabei unterschied er die eigentlichen (idiopathischen) Formen des Wahnsinns, die rein psychische Ursachen hätten (v.a. Konstitution, Erziehung, Lebensführung) von den „sympathischen“ Formen, die primär körperlich begründet seien und keine psychiatrische Behandlung im engeren Sinn erforderten (Benzenhöfer 1993, S. 175).
Ideler versuchte, die moralische und lebensgeschichtliche Entwicklung der Patienten nachzuvollziehen und differenzierte die Wirkung pathogener Leidenschaften 1841 in seiner Schrift Biographien der Wahnsinnigen in ihrer psychologischen Entwicklung folgendermaßen: „Eine solche, das Gemüth ganz durchdringende und beherrschende Sehnsucht muß entweder die Phantasie zum Erdichten einer ihr entsprechenden Weltvorstellung bestimmen, um in dieser eine erträumte Befriedigung zu finden (fixer Wahn); oder sie treibt das empörte Gemüth zum wilden Kampf gegen die verhaßte Wirklichkeit an (Tobsucht); oder sie erfüllt dasselbe mit tiefster Traurigkeit aus dem Gefühl einer unmöglichen Befriedigung (Melancholie); oder sie zerrüttet endlich die Seelenkräfte durch ein allzu naturwidriges Verhältniß, und bringt dadurch die Verwirrtheit hervor.“ (Ideler 1841, S. X).
In seinen Werken verstand Ideler, ebenso wie andere anthropologisch argumentierende Psychiater seiner Zeit, den Menschen als ein leib-seelisches Wesen, das im Irdischen auf den Leib und Körper angewiesen sei, auch wenn die unsterbliche Seele selbständig und dem Leib überlegen sei. Auf der Basis dieser Struktur als „Doppelwesen“ entwarf er die Behandlung der Irren und Wahnsinnigen entlang einer strengen moralisch-pädagogischen Haltung, die den Patienten als unmündig ansah: „Gleich unartigen Kindern kennen die Wahnsinnigen ihre Fehler recht gut; sie können sie nur nicht aus eigener Kraft unterdrücken.“ (Ideler 1832, S. 453). Diese Haltung entsprach dem bürgerlich-christlichen Anspruch einer tugendhaften und sittsamen Lebensführung, die durch die psychiatrische Behandlung erreicht werden sollte. Die durch Zwang und Gehorsam bestimmten Maßnahmen sollten den „maßlosen Drang“ der Leidenschaften zügeln und damit dem Verstand den Wiedergewinn des Gemeinsinns und der richtigen Werte erlauben.
Stellung in der Geschichte der Psychiatrie
Nach der verkürzenden, aber bis weit ins 20. Jahrhundert populären Einteilung von Johann Baptist Friedreich (1836) galt Ideler als typischer Vertreter der sogenannten „Psychiker“ im Gegensatz zu den naturwissenschaftlich orientierten „Somatikern“ (C. W. M. Jacobi, W. Griesinger; vgl. Haack & Kumbier 2004). Friedreichs polarisierende Kriterien dieser Einteilung werden jedoch heutzutage angezweifelt, denn insbesondere die Behandlungsmethoden beider Flügel ähnelten sich (Kutzer 2003). Karl Wilhelm Ideler kann als früher Wegbereiter von personzentrierten, psychologisch argumentierenden und anthropologisch fundierten Modellen psychischer Störungen in der Psychiatrie gelten.
Literatur
Benzenhöfer, U. (1993): Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hürtgenwald: Pressler.
Brückner, B. (2007). Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 2. Das 19. Jahrhundert – Deutschland. Hürtgenwald: Pressler.
Dörner, K. (1969): Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt am Main: Athenäum 1984.
Friedreich, J. B. (1836): Historisch-kritische Darstellung der Theorien über das Wesen und den Sitz der psychischen Krankheiten. Leipzig: Wigand.
Haack, K., E. Kumbier (2004): Carl Wilhelm Ideler (1795-1860). Einführung in Leben und Werk. In: Der Nervenarzt 75, (11), S. 1136-1138.
Haack, K., E. Kumbier (2006): Carl Wilhelm Ideler (1795-1860): a controversial German psychiatrist of the 19th century. In: Journal of neurology, neurosurgery, and psychiatry 77, (8), S. 947.
Ideler, C. L. (1895): Carl Wilhelm Ideler und seine Stellung in der Entwicklung der Psychiatrie. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 51, S. 852.
Ideler, C. L. (1820): De principio nervorum activo imponderabili. Dissertatio inauguralis medica. Berolini.
Ideler, C. L. (1827): Anthropologie für Ärzte. Berlin, Landsberg: Enslin.
Ideler, C. L: (1831): De moxae efficacia in animi morborum medela. Berolini: Schadli.
Ideler, C. W. (1832): Autobiographieen geheilter Geisteskranker. In: Literarische Annalen der gesamten Heilkunde 23, S. 447-473.
Ideler, C. W. (1835): Grundriß der Seelenheilkunde. Theil 1. Berlin: Enslin.
Ideler, C. W. (1838): Grundriß der Seelenheilkunde. Theil 2. Berlin: Enslin.
Ideler, C. W. (1841): Biographien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwicklung. Berlin: Schroeder.
Ideler, C. W. (1847): Der religiöse Wahnsinn erläutert durch Krankengeschichten. Halle: Schwetschke.
Ideler, C. W. (1848): Der Wahnsinn in seiner psychologischen und socialen Bedeutung, erläutert durch Krankengeschichten. Bremen: Schlodtmann.
Ideler, C. W. (1848): Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. 1. Theil. Die Erscheinungen des religiösen Wahnsinns. Halle: Schwetschke.
Ideler, C. W. (1850): Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. 2. Theil. Die Entwickelung des religiösen Wahnsinns. Halle: Schwetschke.
Kirchhoff, T. (1921): Ideler, Carl Wilhelm (1795-1860). In: T. Kirchhoff: Deutsche Irrenärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. Berlin: Springer, S. 152-157.
Kutzer, M. (2003): “‘Psychiker’ als ‘Somatiker’ – ‘Somatiker’ als ‘Psychiker’”. In: E. J. Engstrom, V. Roelcke (Hg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Basel: Schwabe, S. 27–47.
Laehr, H. (1862): Nachruf an C. W. Ideler. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 19, S. 352-361.
Schipperges, H. (1962): Psychiatrische Konzepte und Einrichtungen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. In: K.-P. Kisker (Hg.). Psychiatrie der Gegenwart, Bd. III. 2. Aufl. Heidelberg: Springer, S. 1-36.
Schipperges, H. (1974): Ideler, Karl Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 10. Berlin: Duncker & Humblot, S. 116-118.
Schmiedebach, H. P. (1995): Die Psychiatrie an der Charité auf dem Weg zur Disziplin – zwischen Erziehung und Therapie. In: P. Schneck, H.-U. Lammel (Hg.): Die Medizin an der Berliner Charité zwischen 1810 und 1850. Husum: Matthiesen, S. 111-123.
Wunderlich, G. (1981): Krankheits- und Therapiekonzepte am Anfang der deutschen Psychiatrie. Haindorf, Heinroth, Ideler. Husum: Matthiesen.
Wunderlich, G. (1983): Die psychodynamische Theorie von Ideler (1835). In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 29, (3), S. 286-292.
Catharina Bonnemann
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Zitierweise
Catharina Bonnemann (2015):
Ideler, Karl Wilhelm.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/180-ideler-karl-wilhelm
(Stand vom:02.11.2024)