- Nachname:
- Griesinger
- Vorname:
- Wilhelm
- Epoche:
- 19. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Psychiatrie
- Geburtsort:
- Stuttgart (DEU)
- * 29.07.1817
- † 26.10.1868
Griesinger, Wilhelm
Deutscher Psychiater des 19. Jahrhunderts, Wegbereiter einer naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie.
Lebensweg
Wilhelm Griesinger (1817-1868) wuchs in Stuttgart auf. Sein Vater verwaltete das für die regionale psychiatrische Versorgung zuständige Katharinenhospital. Seine Schulfreunde Carl August Wunderlich und Wilhelm Roser wurden später einflussreiche Mediziner und blieben Griesinger lebenslang freundschaftlich und wissenschaftlich verbunden. Ab 1834 studierte er in Tübingen und Zürich Medizin, legte das Staatsexamen ab und promovierte mit einer Arbeit über Diphtherie. Im Anschluss an verschiedene Studienaufenthalte in Paris und Wien war er kurzzeitig praktischer Arzt in Friedrichshafen am Bodensee, bevor er 1840 Assistenzarzt in der von Ernst Albert Zeller geleiteten Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal wurde. 1843 wechselte er an die medizinische Universitätsklinik Tübingen, wo er zwei Jahre später im Fach Innere Medizin habilitierte und 1847 zum Extraordinarius für Pathologie, Materia medica und Geschichte der Medizin berufen wurde. Zu dieser Zeit arbeitete er in der Anstalt Maria Berg auf der Schwäbischen Alb mit geistig Behinderten. Nachdem er für ungefähr ein Jahr den Lehrstuhl für Innere Medizin an der Universität Kiel bekleidete, folgte er einem Angebot, in Ägypten zu arbeiten. 1850 heiratete er Josephine von Rom und zog mit ihr nach Kairo, wo er die medizinische Schule leitete und zugleich als Präsident der Gesundheitsbehörde und Leibarzt des Vizekönigs angestellt war.
1852 kehrte Griesinger nach Deutschland zurück, um 1854 das Ordinariat für Innere Medizin an der Tübinger Universität – in Nachfolge seines Freundes Carl Wunderlich – anzutreten. 1860 ging er nach Zürich, leitete das Kantonsspital sowie die kantonalen „Irrenanstalt” und beteiligte sich am Aufbau der psychiatrischen Klinik Burghölzli. Auf seiner letzten beruflichen Station leitete er ab 1865 das Königlich-Poliklinische Institut für Innere Medizin in Berlin und die Psychiatrische und Nervenklinik an der Charité. Wilhelm Griesinger verstarb im Alter von 51 Jahren an den Folgen eines perityphlitischen Abszesses (vgl. Mette 1976; Sammet 2000).
Grundpositionen
Die Tätigkeit bei Albert Zeller in der Irrenheilanstalt Winnenthal beeinflusste Griesingers wissenschaftliche Haltung nachhaltig. Zeller postulierte für alle psychischen Störungen eine einzige Grundstörung („Einheitspsychose“), die zu unterschiedlichen Symptomen als Stadien ein und derselben manisch-melancholischen Erkrankung führe. Aufbauend auf der Praxis in Winnenthal verfasste Griesinger im Alter von 28 Jahren sein wissenschaftliches Hauptwerk, das Lehrbuch Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende von 1845. Grundformen des Irreseins seien die psychischen Depressions-, Exaltations- und Schwächezustände. Griesinger wollte die Psychiatrie als empirische – und nicht spekulative – Wissenschaft verstanden wissen und versuchte, romantisch-anthropologische oder naturphilosophische Spekulationen zurückzudrängen. Damit förderte er die Gleichstellung von psychisch gestörten Personen mit somatisch erkrankten Personen, wenngleich der konkrete Zusammenhang zwischen Psyche und Soma noch nicht aufgedeckt sei. 1867 gründete er die Berliner Medicinisch-Psychologische Gesellschaft (heute Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie).1882 wurde sein Lehrbuch ins Englische übersetzt.
Versorgungskonzept
Entgegen der vorherrschenden Vorstellung, psychisch gestörte Personen sollten wohnortfern an einem ruhigen Ort untergebracht werden, schlug Griesinger (1868) neben den traditionellen Pflegeanstalten sogenannte Stadtasyle mit 60-150 Plätzen und bis zu 18 Monaten Verweildauer für „transitorische" (vorübergehend akute) Fälle vor. Er forderte eine Anbindung an die kommunale Krankenversorgung, psychiatrischen Unterricht im Stadtasyl, Probeentlassungen, Hausbesuche, Familienpflege und nicht-invasive Behandlungsmethoden („Non-restraint“). Dieser Vorschlag traf auf teils heftige Kritik aus dem konservativen Lager der Anstaltspsychiatrie (insbesondere von Heinrich Laehr, 1868; vgl. Brosius 1868) und wurde nach vielfachen Diskussionen in den Fachgesellschaften nicht realisiert (vgl. Sammet 2000).
Medizin und Neuropsychologie
Oft wird Griesinger die Sentenz „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ zugeschrieben – in seinen Schriften kommt dieser Satz jedoch nicht vor. Grundsätzlich entwickelte Griesinger (1843) ein reflexphysiologisches Störungsmodell, das ältere anthropologische und naturphilosophische Spekulationen ersetzte, die organische Basis psychischer Symptome beschrieb und diese mit persönlichkeitstheoretischen Kategorien verknüpfte (vgl. Wahrig-Schmidt 1985). Vor diesem Hintergrund schrieb Griesinger 1845 in Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten:
„Das Irresein selbst, ein anomales Verhalten des Vorstellens und Wollens, ist ein Symptom; die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständniss der Symptome ist ihre Localisation. Welchem Organ gehört das Phänomen des Irreseins an? – Welches Organ muss also überall und immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? – Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen Psychiatrie.
Zeigen uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.“ (Griesinger 1845, S. 1).
Griesinger wies damit die Verortung der Störungen im moralischen Raum oder aber in peripheren somatischen Prozessen zurück. Er kannte psychische, gemischte und somatische Ursachen der „Geisteskrankheiten“, von denen die „psychischen Ursachen“ „die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins“ seien (Griesinger 1845, S. 126). Heftige Affekte könnten somatische Prozesse beeinflussen. Mit dieser Theorie der psychophysischen Wechselwirkung behauptete er: „Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirn zu begreifen“ (Griesinger 1845, S. 2), obwohl die Vorgänge global im Hirn lokalisierbar seien. Nur ein starkes „Ich“ vermittele zwischen Reflexaktionen und individuellen Erfahrungen und verbinde somit Leib und Seele. Geschwächte Ich-Funktionen seien demgegenüber nicht in der Lage, die hirnpathologisch vermittelten Verstimmungen im Gemein- und Selbstgefühl zu beherrschen und damit der eigentliche Grund psychischer Störungen (vgl. Brückner 2007, S. 79 f.).
Konstitutions- und Degenerationstheorie
Griesinger Position kann nicht eindeutig den sogenannten „Somatikern“ des 19. Jahrhunderts zugerechnet werden, sondern, wie Hoff und Hippius (2001, S. 887) formulieren, eher einem „methodischen Materialismus“. In späteren Jahren revidierte Griesinger den einheitspsychotischen Ansatz. Er vertrat verstärkt neuropathologische und degenerationstheoretische Ursachenhypothesen (vgl. Roelcke 1999, S. 88-95). In der zweiten Auflage seines Hauptwerks akzeptierte Griesinger (1861, S. 157-164) das von Morel (1857) neu entwickelte, einflussreiche, aber spekulative erbtheoretische Modell der Degenerationstheorie bei „geschlossenen Populationen“ und für „nervöse Constitution“ und verbreitete es damit im deutschen Sprachraum.
Literatur
Brosius, C. M (1868): Ueber Irren-Anstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland von Griesinger, Archiv I. Heilbronn: Schell.
Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Bd. 2., 19. Jahrhundert – Deutschland. Hürtgenwald: Guido Pressler.
Griesinger, W. (1843): Ueber psychische Reflexactionen. Mit einem Blick auf das Wesen der psychischen Krankheiten. In: W. Griesinger: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1: Psychiatrische und nervenpathologische Abhandlungen. Berlin: Hirschwald 1872, S. 3-45 .
Griesinger, W. (1845): Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende dargestellt. Stuttgart: Krabbe.
Griesinger, W. (1868): Ueber Irrenanstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1, (1), S. 8-43.
Griesinger, W. (1868a): Zur Kenntnis der heutigen Psychiatrie in Deutschland. Eine Streitschrift gegen die Broschüre des Sanitätsrats Dr. Laehr in Zehlendorf. Leipzig: Wigand.
Griesinger, W. (1861): Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende. Zweite, umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage. Stuttgart: Krabbe.
Griesinger, W. (1872): Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1: Psychiatrische und nervenpathologische Abhandlungen. Berlin: Hirschwald.
Griesinger, W. (1872a): Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2: Verschiedene Abhandlungen. Berlin: Hirschwald.
Griesinger, W. (1882): Mental pathology and therapeutics. New York: William Wood.
Hoff, P., H. Hippius (2001): Wilhelm Griesinger. 1817–1868. Sein Psychiatrieverständnis aus historischer und aktueller Perspektive. In: Der Nervenarzt 72, (11), S. 885-892.
Laehr, H. (1868): Fortschritt? – Rückschritt! Reform-Ideen des Herrn Geh. Rathes Prof. Dr. Griesinger in Berlin auf dem Gebiete der Irrenheilkunde beleuchtet von Dr. Heinrich Laehr, Berlin: Oehmigke.
Leibbrand, W., A. Wettley (1966): Griesinger, Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 7. Berlin: Duncker & Humblot, S. 64-66.
Mette, A. (1976): Wilhelm Griesinger, der Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie in Deutschland. Leipzig: Teubner.
Morel, B. A. (1857): Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espècehumaine et des causes qui produisentcesvariétésmaladives. Paris: Baillière.
Roelcke, V. (1999): Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914). Frankfurt am Main: Campus.
Sammet, K. (2000). “Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland” – Wilhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865–1868. Hamburg, Münster, London: LIT-Verlag.
Sammet, K. (2003): Ökonomie, Wissenschaft und Humanität – Wilhelm Griesinger und das Non-Restraint-System. In: V. Roelcke, E. J. Engstrom (Hg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum. Mainz, Basel: Akademie der Wissenschaften, Schwabe, S. 95-116.
Schott, H., R. Tölle (2006): Magna Charta der Psychiatrie. Leben und Werk von Wilhelm Griesinger. Ausschnitte einer Geschichte der Psychiatrie in Deutschland. In: Sozialpsychiatrische Informationen 36, (4), S. 2-9.
Wahrig-Schmidt, B. (1985): Der junge Wilhelm Griesinger im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Physiologie. Anmerkungen zu den philosophischen Wurzeln seiner frühen Psychiatrie. Tübingen: Narr.
Julian Schwarz, Burkhart Brückner
Bild: Wellcome Collection / Lizenz: CC-BY 4.0
Zitierweise
Julian Schwarz, Burkhard Brückner (2015):
Griesinger, Wilhelm.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/179-griesinger-wilhelm
(Stand vom:22.11.2024)