- Nachname:
- Basaglia
- Vorname:
- Franco
- Epoche:
- 20. Jahrhundert
- Arbeitsgebiet:
- Psychiatrie
Sozialpsychiatrie
Politik - Geburtsort:
- Venedig (ITA)
- * 11.03.1924
- † 29.08.1980
Basaglia, Franco
Psychiater, Neurologe und Wegbereiter der italienischen Psychiatriereform.
Franco Basaglia (1924-1980) wurde als mittlerer von drei Söhnen in eine wohlhabende Familie geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in San Polo, einem Vorort Venedigs. In Padua besuchte er die Oberschule, studierte Medizin und absolvierte bis 1953 seine Ausbildung zum Psychiater. Im selben Jahr heiratete er die linke Politikerin Franca Ongaro, aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Basaglia erhielt 1958 die Lehrbefugnis für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät Padua. Anschließend leitete er verschiedene psychiatrische Kliniken; zunächst im norditalienischen Gorizia, dann ab 1969 in Colorno (Parma) sowie für zwei Jahre die Klinik San Giovanni in Triest. Im November 1979 wurde er in Rom Psychiatriekoordinator für die Region Lazio. Seitdem reiste er mehrmals nach Brasilien, um dort seine Erfahrungen mit der italienischen Psychiatriereform zu vermitteln. Basaglia starb 1980 an den Folgen eines Hirntumors in Venedig.
Wissenschaftstheoretische Orientierung
Basalgia verband zunächst Konzepte aus der frühen phänomenologischen Psychiatrie (u. a. von Eugène Minkowski, Ludwig Binswanger) mit seinen eigenen praktischen Erfahrungen und einer entschiedenen Kritik des Positivismus in der Medizin (Basaglia-Ongaro 1981). Anstatt vermeintlich objektive Symptome als Krankheitseinheiten zu klassifizieren, bevorzugte er die phänomenologische Deskription des Erlebens der Betroffenen, um den Sinngehalt in Psychosen zu erkennen und diese als eine besondere Möglichkeit menschlichen Daseins anzuerkennen. Basaglia (2002, S. 83) stellte kritisch fest, „wie sich die Medizin die Psychiatrie langsam einverleibt. Wenn die Krankheit eine Sache von Organen ist, hat die Psychiatrie mit der Medizin nichts gemein. Die Psychiatrie war immer die Wissenschaft vom Wahnsinn. Man könnte vielleicht sagen, dass sie eine eher 'philosophische' Vision des Wahnsinns hatte, zumindest solange sie nicht das Spiel des Positivismus mitmachte, das heißt bis zu der Zeit, als Psychiater begannen, Modelle zu entwickeln, in denen der Geist nicht mehr vorkommt."
Anstaltsleitung in Gorizia, Colorno und Trieste
Basaglia hielt die Zustände, die er 1961 in Gorizia vorfand, für nicht hinnehmbar (z. B. gefängnisartige Unterbringung, Zwangsjacken). Gemeinsam mit Mitarbeitern und Patienten der Klinik diskutierte er Reforminitiativen auf Versammlungen, öffnete geschlossene Stationen, hob die Geschlechtertrennung auf, schaffte Zwangsmaßnahmen ab und integrierte die Patienten in den Therapieprozess. Seine Erfahrungen mit diesem Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft verarbeitete er in dem 1968 erschienenen Buch Instituzione negata (Die negierte Institution), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Wenig später gab er zusammen mit seiner Frau den Bildband Morire di classe heraus (1969, Das Sterben einer Klasse), der einer breiten Öffentlichkeit erstmals Einblicke in die Lebens- und Behandlungsrealität einer psychiatrischen Anstalt bot. Die Fotos wurden unter anderem durch Zitate von Primo Levi, Paul Nizan, Michel Foucault und Rainer Maria Rilke begleitet.
Die in Görz und Colorno angestoßenen Reformen scheiterten allerdings häufig an bürokratischen Hürden oder indirekten Blockaden durch die Lokalregierung. Schließlich konnte Basalgia in Triest weitreichende Umstrukturierungen vornehmen, etliche Patienten in ihren eigentlichen Sozialraum zurückführen und die Anstalt auflösen. Als er 1971 die Leitung der Triester Klinik antrat, lebten dort gut 1.200 Patienten, davon waren 840 gegen ihren Willen untergebracht. In den folgenden acht Jahren wurde die Klinik sukzessive verkleinert und viele Patienten – sofern sie nicht pflegebedürftig waren – in eigenen Wohnungen oder in Wohngruppen untergebracht. Für die gemeindenahe Grundversorgung wurden Zentren für geistige Gesundheit gegründet (Centro di salute mentale). Die Triester Klinik wurde 1973 als Pilotprojekt der WHO anerkannt und zog zahlreiche internationale Besucher an.
Basaglia und das Reformgesetz Nr. 180
Am 17. Mai 1978 verabschiedete die italienische Regierung das landesweit gültige Gesetz Nr. 180, um die schrittweise Schließung der italienischen Anstalten zu legitimieren und regeln. Das bis heute gültige Gesetz wird im italienischen Sprachgebrauch auch „legge Basaglia” („Gesetz von Basaglia“) genannt.
Zuvor gab es zwei gesetzliche Vorgaben. Das Gesetz Nr. 36 („legge Giolitti”) vom 14. Februar 1904 regelte erstmals juristisch den Umgang mit den Patienten in Italien. Der Gesetzestext ging davon aus, dass schwere psychische Störungen unheilbar und die Betroffenen in der Regel „gemeingefährlich“ seien. Die Patienten mussten demnach regulär zwangseingewiesen und vollständig entmündigt werden und einen Eintrag ins Strafregister erhalten. Erst mit der „Mariottireform” vom 18. März 1968 (Gesetz Nr. 431) wurden diese Vorgaben abgeschafft, eine personelle Mindestausstattung für die beteiligten Berufsgruppen definiert (Pflegekräfte, Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter) und die Bettenzahl der Abteilungen limitiert. Nach Ralli und Kriescher-Fauchs (1980, S. 208) war dieses Gesetz „ein von oben aufgesetzter, liberalisierender Versuch, die Krise der Psychiatrie zu beheben“. Es fand nur sehr begrenzt Anwendung, da unter anderem Durchführungsbestimmungen fehlten.
Als zehn Jahre später, im Jahr 1978, das Gesetz Nr. 180 eingeführt wurde, waren die Zentralkrankenhäuser nach wie vor mit Langzeitpatienten überfüllt. Politik und Medien kritisierten die Bedingungen der Unterbringung. Fachverbände im Umfeld von Basaglia leisteten Öffentlichkeitsarbeit und führten eine Unterschriftenaktion durch, um einen Volksentscheid zur Auflösung aller psychiatrischen Kliniken zu erwirken. Die italienische Regierung versuchte, ein drohendes Referendum abzuwenden, indem sie das Gesetz Nr. 180 binnen 23 Tagen verabschiedete. Inhaltlich räumte es den Betroffenen wesentlich mehr Rechte ein. Sie konnten den Ort der Behandlung und den behandelnden Arzt frei wählen und aus der Anstalt heraus mit jeder beliebigen Person Kontakt aufnehmen. Stigmatisierende Begriffe wie „Geisteskrankheit“ oder „Gemeingefährlichkeit“ wurden abgeschafft und Zwangseinweisungen nur noch bei Behandlungsbedürftigkeit und fehlender Krankheitseinsicht gestattet. Jeder Bürger – einschließlich der Patienten selbst – konnte nun einen Antrag auf Aufhebung von Zwangsmaßnahmen und Unterbringung bei der zuständigen Gemeinde stellen. Der Bau neuer Anstalten wurde untersagt und jede Region hatte ein Allgemeinkrankenhaus zu bestimmen, das die Verantwortung für die stationäre Notfallversorgung von maximal 15 Patienten übernahm.
Wie schon bei dem vorangehenden Gesetz, mangelte es auch dem „legge Basaglia“ an Durchführungsbestimmungen. Auffällig ist, dass es vor allem im ökonomisch stärkeren Norden Italiens zu Fortschritten führte. Während die Reform dort überwiegend von den Mitarbeitern in den Anstalten getragen wurde, gab es im eher konservativen Süden eine „regelrechte Sabotierung des Reformgesetzes“ durch das klinische Personal und die Gesundheitspolitik (Neukirch 2008, S. 2). Ein weiteres Problem war der negatorische Charakter des Gesetzes: Es regelte die Auflösung von Großanstalten und verhinderte großenteils die Neueinrichtung von Kliniken. Aber wie eine gemeindenahe Versorgung auszusehen habe und wie diese finanziert werden könnte, wurde den Gemeinden bzw. Bezirksregierungen überlassen. Der Bettenrückgang hingegen, der fälschlicherweise häufig mit dem Gesetz assoziiert wird, setzte bereits 1965 nach den ersten Enthospitalisierungs-Programmen ein. Basaglia selbst hielt das Gesetz Nr. 180 für nicht weitgehend genug, aber dennoch für einen Schritt in die richtige Richtung.
Literatur
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Basaglia, F., F. Basaglia-Ongaro (1972, Hg.): Morire di classe. La condizione manicomiale fotografata da Carla Cerati e Gianni Berengo Gardin. Turin: Einaudi.
Basaglia, F. (1973): Che cos'è la psichiatria?. Turin: Einaudi. [Dtsch: Was ist Psychiatrie? Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974].
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Julian Schwarz
Zitierweise
Julian Schwarz (2015):
Basaglia, Franco.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL:
biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/104-basaglia-franco
(Stand vom:22.11.2024)