Ludwig Binswanger (1881-1966) wurde in Kreuzlingen am Bodensee geboren. Er stammt aus einer Familie von Nervenärzten, die bereits seit zwei Generationen in Kreuzlingen eine private psychiatrische Heilanstalt führten. Von seinem gleichnamigen Großvater (1820-1880) gegründet, hatte sein Vater Robert Binswanger (1850-1910) das Sanatorium Bellevue übernommen. Otto Binswanger (1852-1929), Ludwigs Onkel, war ein renommierter Kliniker und Neuropathologe in Jena.
Ludwig Binswanger besuchte die Kantonsschule in Schaffhausen und absolvierte sein Abitur an einem humanistischen Gymnasium in Konstanz. Von 1900 bis 1906 studierte er Medizin in Lausanne, Heidelberg und Zürich. Seine erste Stelle erhielt er an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich unter der Leitung von Eugen Bleuler. 1907 promovierte er bei seinem Oberarzt Carl Gustav Jung und lernte die Psychoanalyse kennen, die sein späteres Konzept der Daseinsanalyse nachhaltig beeinflusste. Im gleichen Jahr wechselte er an die psychiatrische Universitätsklinik Jena zu seinem dort tätigen Onkel Otto Binswanger. In Jena lernte er seine spätere Frau Hertha Buchenberg kennen, die Tochter des badischen Finanzministers. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, allerdings verstarb der erstgeborene Robert früh. Bevor Binswanger 1908 als Assistent in die väterliche Anstalt in Kreuzlingen eintrat, unternahm er eine Bildungsreise, die ihn über Paris nach England und Schottland führte. Als sein Vater zwei Jahre später überraschend starb, übernahm er die Leitung des Bellevue, die er bis 1957 – fast 50 Jahre lang – innehatte. Damit entschied er sich gegen eine akademische Laufbahn. Er bevorzugte den engen Kontakt mit den Patienten und etablierte psychoanalytische Behandlungen an seiner Klinik. Dennoch beschäftigte er sich wissenschaftlich außerordentlich produktiv mit der philosophischen Reflexion seiner klinischen Arbeit. Ludwig Binswanger starb am 1966 im Alter von 84 Jahren in Kreuzlingen.
Sanatorium Bellevue
Ludwig Binswanger hatte schon als Kind und Jugendlicher viel Zeit im Bellevue verbracht. Sein Großvater, Ludwig Binswanger (der Ältere), erwarb das Klinikgelände 1857 samt Wohn- und Geschäftshäusern und gründete eine „Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes“. Er lebte dort gemeinsam mit seiner Familie, dem Personal und gut vierzig Patienten. 1880 erhielt sein Sohn Robert die Klinik und wandelte sie in eine wesentlich größere Kuranstalt für Nerven- und Gemütskranke um. Ludwig Binswanger übernahm die Leitung 1910 im Alter von knapp dreißig Jahren. Die Klinik war inzwischen international bekannt und zog prominente Patienten an, z. B. den Maler Ernst Ludwig Kirchner oder den Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg. Der Wissenschaftler war nach einem schweren psychotischen Zusammenbruch 1921 ins Bellevue gekommen. Er wurde ca. vier Jahre behandelt, bis er schließlich nach eigner Aussage „zur Normalität beurlaubt“ werden konnte (vgl. zum Briefwechsel mit Warburg: Marazia und Stimilli 2007). Zuvor hatte Robert Binswanger schon die spätere Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim behandelt, die Sigmund Freud und Joseph Breuer 1895 in den Studien über Hysterie unter dem Pseudonym Anna O. beschrieben. 1957 übernahm Wolfgang Binswanger die Klinik, bis sie zwanzig Jahre später aus ökonomischen Gründen geschlossen und 1986 verkauft werden musste.
Beziehung zu Freud
„Meine Erinnerungen an Sigmund Freud sind die Erinnerungen an unsere Freundschaft und deren Geschichte“, bekannte Binswanger (1956a, S. 7). Beide hatten sich kennengelernt, als Binswanger am Züricher Burghölzli als Assistent für C. G. Jung arbeitete. Jung forschte über den Zusammenhang von Vorstellungen und Affekten und hatte eine psychoanalytische Affekttheorie ausgearbeitet. Binswanger traf Freud das erste Mal im Februar 1907, woraus mehrere Begegnungen und eine Brieffreundschaft entstanden. Binswanger dokumentierte das persönliche Verhältnis ausführlich (1956a, 1957, Fichtner 1992), im fachlichen Austausch hielt er jedoch kritische Distanz zu Freuds Psychoanalyse.
Kritik der Psychoanalyse und die Daseinsanalyse
Binswanger arbeitete mehr an einer anthropologischen Lehre als an einer philosophischen Theorie oder Therapietechnik. Seine Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie von 1922 war ein Versuch, die Psychoanalyse mit der Idee der menschlichen Personalität zu verknüpfen. Binswanger kritisierte Freuds zwiespältige Betrachtungsweise der Seele als Naturding und zugleich als Subjekt, aber auch die Reduktion des Menschen auf ein von Trieb und Libido beherrschtes Wesen. Ebenso problematisierte er Freuds „psychohydraulische“ Seelenmechanik auf der Basis von Wilhelm Diltheys verstehender Psychologie und Henri Bergsons Konzept der Freiheit. Er folgerte, dass die menschliche Persönlichkeit nicht über Kausalketten rekonstruierbar sei, sondern in ihren schöpferischen, freien Akten biographisch verstanden werden müsse. Binswangers Begriff der Person hing von Edmund Husserls Konzept der Intentionalität ab. Erst die sinnvolle Gerichtetheit des Bewusstseins auf Gegenstände und Inhalte mache den Menschen zu einer Person, erst sie konstituiere eine Persönlichkeit als „Summe ihrer intentionalen Akte“ (Danzer 2011, S. 263).
Auszeichnungen
1941: Ehrendoktorat der Universität Basel.
1956: Goldene Kraepelin Medaille.
1959: Ehrendoktorat der Universität Freiburg im Breisgau.
1961: Ehrensenator der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.
Literatur
Binswanger, L. (1922): Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie. Berlin: Springer.
Binswanger, L. (1924): Welche Aufgaben ergeben sich für die Psychiatrie aus den Fortschritten der neueren Psychologie? In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 91, (1), 402-436.
Binswanger, L. (1928): Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 68, (1/6), S. 52-79.
Binswanger, L. (1928a): Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traumes. Berlin: Springer.
Binswanger, L. (1930): Traum und Existenz. In: Neue Schweizer Rundschau 23, (1), S. 673-685.
Binswanger, L. (1932): Zur Geschichte der Heilanstalt Bellevue, 1857–1932. Zürich: Orell Füssli.
Binswanger, L. (1936): Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie. In: L. Binswanger: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. 1. Bern: Francke 1947, S. 159-189.
Binswanger, L. (1942): Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins. Zürich: Niehans.
Binswanger, L. (1944): Der Fall Ellen West. Bericht. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 53, S. 255-277.
Binswanger, L. (1944a): Der Fall Ellen West. Daseinsanalyse. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 54, S. 69-117.
Binswanger, L. (1944b): Der Fall Ellen West. Daseinsanalyse und Psychoanalyse. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 54, S. 330-360.
Binswanger, L. (1945): Der Fall Ellen West. Weitere Beobachtungen über Freßgier. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 55, S. 16-40.
Binswanger, L. (1945a): Der Fall Ellen West. Eine anthropologisch-klinische Studie. Zürich: Orell Füssli.
Binswanger, L. (1946): Über Sprache und Denken. Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft.
Binswanger, L. (1946a): Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie. In: Schweizer Archiv für Psychiatrie und Neurologie 57, (1), S. 209-235.
Binswanger, L. (1947): Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. 1: Zur phänomenologischen Anthropologie. Bern: Francke.
Binswanger, L. (1949): Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst. Heidelberg: Lambert Schneider.
Binswanger, L. (1949a): Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie. In: C. Astrada (Hg.): Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften. Bern: Francke, S. 58-72.
Binswanger, L. (1954): Über Martin Heidegger und die Psychiatrie. Festschrift zur Feier des 350-jährigen Bestehens des Heinrich-Suso-Gymnasium zu Konstanz. Konstanz: Merk.
Binswanger, L. (1956): Erinnerungen an Sigmund Freud. Bern: Francke.
Binswanger, L. (1956a): Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit. Tübingen: Niemeyer.
Binswanger, L. (1957): Schizophrenie. Pfullingen: Neske.
Binswanger, L. (1957a): Der Mensch in der Psychiatrie. Pfullingen: Neske.
Binswanger, L. (1960): Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien. Pfullingen: Neske.
Binswanger, L. (1965): Wahn. Beiträge zu seiner phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung. Pfullingen: Neske.
Danzer, G. (2011): Ludwig Binswanger. In: Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen. Berlin: Springer, S. 259-270.
Fichtner, G. (1992, Hg.): Sigmund Freud, Ludwig Binswanger. Briefwechsel 1908-1938. Frankfurt am Main: Fischer.
Goddemeier, C. (2006): Ludwig Binswanger. Begründer der Daseinsanalyse. Vor 125 Jahren wurde der Psychiater und Psychotherapeut geboren. In: Deutsches Ärzteblatt 103, (6), S. 264.
Gros, C. (2009): Ludwig Binswanger. Entre phénoménologie et expérience psychiatrique. Chatou: Les Éditions de La Transparence.
Hirschmüller, A. (2003, Hg.): Ellen West: Eine Patientin Ludwig Binswangers zwischen Kreativität und destruktivem Leiden. Bd. 1. Neue Forschungsergebnisse. Heidelberg: Asanger.
Marazia, C., D. Stimilli (2007, Hg.): Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Zürich: Diaphanes.
Mishara, A. (1997): Binswanger and Phenomenology. In: L. Embree (Hg.): Encyclopedia of Phenomenology. Dordrecht: Kluwer, S. 62-66.
Moses, A., A. Hirschmüller (2004): Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen. Das „Asyl“ unter Ludwig Binswanger sen. 1857-1880. (Marburger Schriften zur Medizingeschichte, 44). Frankfurt am Main: Peter Lang.
Schmidt, M. (2004): Ekstatische Transzendenz: Ludwig Binswangers Phänomenologie der Liebe und die Aufdeckung der sozialontologischen Defizite in Heideggers „Sein und Zeit“. Würzburg: Königshausen + Neumann.
Theunissen, M. (1977): Ludwig Binswangers Phänomenologie der Liebe. In: M. Theunissen: Der Andere. Berlin: De Gruyter, S. 439-476.
Julian Schwarz
Foto: Ernst Ludwig Kirchner / Quelle: Wikimedia / gemeinfrei [public domain].