Wulff, Erich Adalbert
Nachname:
Wulff
Vorname:
Erich Adalbert
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Psychiatrie
Sozialpsychiatrie
Geburtsort:
Tallinn (EST)
* 06.11.1926
† 31.01.2010
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(Pseud.: Georg W. Alsheimer). Prägende Persönlichkeit der deutschen Sozialpsychiatrie.

 

Lebensweg

Erich Adalbert Wulff (1927-2010) wurde im estländischen Tallinn, als Sohn eines deutschen Arztes und einer lettischen Mutter geboren. Im Alter von 13 Jahren zog die baltendeutsche Familie nach Posen, da sie von einer nationalsozialistischen Umsiedlungsaktion betroffen war. Noch als Jugendlicher wurde Wulff zur Wehrmacht eingezogen und geriet in Gefangenschaft. Seine akademische Laufbahn begann 1947 mit dem Studium der Medizin und Philosophie an der Universität Köln. Während seiner Studienzeit war er häufiger in Frankreich und wählte Paris als Lebensmittelpunkt bis 1954. Dort lernte er Intellektuelle und Künstler kennen, etwa den Bildhauer Alberto Giacometti, und befreundete sich mit dem Autor Julio Cortazar. An den psychiatrischen Universitätskliniken Marburg und Freiburg absolvierte Wulff seine Assistenzzeit, bevor er 1961 einen Lehrauftrag für Physiologie an der Freiburger Partneruniversität Hué - im damaligen Südvietnam - annahm. Später gründete er in Hué eine Klinik für Psychiatrie und Neurologie. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel besorgte er eigenständig und überwiegend aus Spenden kirchlicher Organisationen.

 

1967 kehrte Wulff nach Deutschland zurück, um eine Stelle als Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Gießen anzutreten und habilitierte sich innerhalb eines Jahres. Zusätzlich erhielt er eine Gastprofessur zur „Soziologie der Geisteskrankheiten” an der Universität Paris Vincennes (VIII). Er knüpfte dort zahlreiche Kontakte, z.B. zu dem Soziologen Robert Castel. 1972 heiratete er die aus Algerien stammende Französin Edith Toubiana. Aus der Ehe gingen 3 Kinder hervor, Jonathan, Manuel und Noemi. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis Wulff den Ruf einer deutschen Hochschule erhielt: 1974 wechselte er an die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) und trat die dort unter Karl-Peter Kisker neu eingerichtete Professur für Sozialpsychiatrie an. Er leitete die sozialpsychiatrische Abteilung bis zu seiner Emeritierung 1994 und zog 2003 zusammen mit seiner Frau nach Frankreich. Erich Wulff starb 2010 - nach langer Krankheit - in seiner Pariser Wohnung.

 

Politisches Engagement

Wulffs politisches Engagement ging deutlich über die Grenzen seiner Profession hinaus. Die prägende Lebensstation war der Aufenthalt in Vietnam (1961-1967). Trotz des seit mehreren Jahren anhaltenden Krieges (ca. 1955-1975) nahm er in Hué einen Lehrauftrag an und unterhielt u.a. Kontakte zur Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams („Vietcong”). Er setzte sich dabei zur Aufklärung von mutmaßlichen Kriegsverbrechen der Amerikaner ein. 1968 erschien seine erste größere Veröffentlichung Vietnamesische Lehrjahre (1968) unter dem Pseudonym „Georg W. Alsheimer“. Das Pseudonym spielte dabei nicht auf die dementielle Erkrankung vom Alzheimer-Typ an, sondern auf die Weinbauregion Alsheim. Wulff schilderte die historischen und sozialen Zustände während des Vietnamkrieges aus Sicht der betroffenen Bevölkerung. Sein Buch lieferte auch außerhalb Deutschlands Anstöße für die antiimperialistische Vietnam- und Friedensbewegung.

 

Soziale Psychiatrie

Wulff besaß ein ausgesprochen reformorientiertes Verständnis von Psychiatrie. Er bezog sich auf die Demokratische Psychiatrie in Italien, das Konzept der therapeutischen Gemeinschaft und die marxistische Studentenbewegung der sechziger Jahre. Im Kern ging es ihm um eine kommunale, auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmte Versorgung. Sein Engagement war die Folge von früheren Erfahrungen als Student in der Psychiatrie der fünfziger Jahre. Damals schockierten ihn die problematischen Zustände in den Anstalten. Ende der 60er Jahre - noch deutlich vor der deutschen Psychiatriereform - öffnete er die Türen einer geschlossenen Abteilung in Gießen Zudem führte er gemischtgeschlechtliche Stationen ein.

 

Als Redaktionsmitglied der Zeitschrift Sozialpsychiatrische Informationen gestaltete er dieses bedeutende Organ der sozialpsychiatrischen Praxis maßgeblich mit. Während Wulff auch zahlreiche gesellschaftspolitische Texte veröffentlichte (u.a. in der Zeitschrift Das Argument), bemühte er sich in seinen theoretischen Beiträgen um ein phänomenologisch-anthropologisches Verständnis individueller Störungen im Sinne einer „Freiburg-Heidelberger” Schule (bezugnehmend auf Hanns Ruffin und Albert Derwort).

 

Ethnopsychiatrie

Nach seinen Erfahrungen in Vietnam interessierte Wulff sich lebenslang für ethnopsychiatrische Problemstellungen. Nach Machleidt (2007, S. 2) ging es ihm um „die kulturvergleichende Relativierung eigener ethnozentristischer Verständniszugänge zur Psychiatrie, insbesondere um die Gewinnung einer interkulturellen Perspektive und ethnografischen Distanz zum eigenen diagnostischen und therapeutischen Tun”. 1990 entwarf Wulff in dem Aufsatz Was trägt die Ethnopsychiatrie zum Verständnis psychischer Erkrankungen bei? eine umfassende Theorie der interkulturellen Psychiatrie und des Verhältnisses von Psyche und Kultur. Die Kultur sei ein „Spiegelbild des Psychischen“. In dieser wechselseitigen Doppelung sah er einen wichtigen innerpsychischen Stabilisator, der in der Fremde abhandenkommen und verloren gehen könne. Dies sei z.B. zu beobachten, wenn durch misslingende Assimilationsprozesse bei Migranten ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankung entstehe.

 

Theorie des schizophrenen Wahns

In seinem Hauptwerk Wahnsinnslogik (1995) entwickelte Wulff eine Theorie des schizophrenen Wahns. Ausgangspunkt war die Frage, wie die „Unverständlichkeit“ schizophrenen Wahns von den Betreffenden selbst „hergestellt“ werden könne. Dabei verband Wulff begriffliche Grundlagen aus der Phänomenologie (E. Husserl), der Tätigkeitspsychologie (A. N. Leontjew) und der Kritischen Psychologie (K. Holzkamp). Wulff konzentrierte sich dabei auf das Verhältnis zwischen objektiven, alltäglichen Gegenstandsbedeutungen (z.B. ein Stuhl als Sitzmöbel) und möglichen subjektiv-situativen Sinnzuweisungen (z.B. ein Stuhl als Feuerholz). Dieses für das Bewusstsein fundamentale und stets mitlaufende, variable Verhältnis zwischen Bedeutung und Sinn werde im schizophrenen Wahn negiert und „aberkannt“: Erst durch diesen Bruch könnte die Alltagswelt für die Betreffenden die scheinbar “unverständlichen“, wahnhaft- imaginären Sinngehalte annehmen. Wulff verstand den Wahn also als einen dramatischen Verlust einer fundamentalen Funktion des natürlichen Bewusstseins. Er verdeutlicht diese Thesen in Wahnsinnslogik mit der ausführlichen Analyse eines klinischen Falls aus den fünfziger Jahren, aber auch mit autobiographischen Berichten über eigene kurzzeitige Wahnerfahrungen.

 

Erich Wulff hat die deutsche Sozialpsychiatrie in der internationalen Diskussion mitgeprägt. Die von ihm zusammen mit Karl-Peter Kisker aufgebaute „Hannoveraner Sozialpsychiatrie“ war über Jahrzehnte ein Zentrum der reformorientierten Psychiatrie in Deutschland. In seinem letzten Buch Irrfahrten. Autobiographie eines Psychiaters (2001) resümierte Wulff sein Leben und Werk.

 

Literatur

Alsheimer, G. W. (Pseudonym, 1968): Vietnamesische Lehrjahre. Sechs Jahre als deutscher Arzt in Vietnam 1961-1967. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Alsheimer, G. W. (Pseudonym, 1979): Eine Reise nach Vietnam. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

   Greve, W. (1993): Zur Emeritierung von Erich Wulff. In: Sozialpsychiatrische Informationen 23, (4), S.43-44.

Machleidt, W. (2007): Erich Wulff als Ethnopsychiater. Hommage zu seinem 80. Geburtstag. Biographischer Abriss. In: Sozialpsychiatrische Informationen 37, (2), S. 2-6.

Seidel, R. (2010): Zum Tod von Erich Wulff. In: Sozialpsychiatrische Informationen 40, (2), S. 3-4.

Wulff, E. (1972): Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der Psychiatrie und Medizin. Frankfurt am Main: Athenäum.

Wulff, E. (1978, Hg.): Ethnopsychiatrie. Seelische Krankheit, ein Spiegel der Kultur?. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft.

Wulff, E. (1979): Transkulturelle Psychiatrie. (Argument Studienhefte 23). Berlin: Argument.

Wulff, E. (1979a): Psychiatrie und Herrschaft. (Argument Studienhefte 34). Berlin: Argument.

Wulff, E. (1980): Der Intellektuelle, die Praxis und die Institutionen. In: F. Basaglia, F. Basaglia-Ongaro (Hg.): Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, S. 117-124.

Wulff, E. (1981): Psychisches Leiden und Politik. Ansichten der Psychiatrie. Frankfurt am Main: Campus.

Wulff, E. (1987): Paranoic conspiracy delusion. In: C. F. Graumann, S. Moscovi (Hg.): Changing conceptions of conspiracy. New York, Berlin: Springer, S. 171–190.

Wulff, E. (1990): Was trägt die Ethnopsychiatrie zum Verständnis psychischer Erkrankungen bei? In: A. Thom, E. Wulff ( Hg.): Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 96-113.

Wulff, E. (1995): Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrung. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Wulff, E. (2001): Irrfahrten. Autobiographie eines Psychiaters. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Wulff, E. (2005): Das Unglück der kleinen Giftmischerin und zehn weitere Geschichten aus der Forensik. Bonn: Psychiatrie Verlag.

 

Julian Schwarz, Burkhart Brückner

 

Zitierweise
Julian Schwarz, Burkhart Brückner (2015): Wulff, Erich Adalbert.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/67-wulff-erich-adalbert
(Stand vom:29.03.2024)