Nachname:
Wulf
Vorname:
Paul
Epoche:
20. Jahrhundert
Arbeitsgebiet:
Politik
Sonstige
Geburtsort:
Essen-Altenessen (DEU)
* 02.05.1921
† 03.07.1999
Biographie drucken

Heim- und Anstaltsinsasse, zivilgesellschaftlicher Aktivist.

 

Paul Wulf (1921-1999) wuchs in Essen-Altenessen als Sohn eines Zechenarbeiters mit seinen drei Geschwistern und seiner Mutter in proletarischen Verhältnissen auf. Im Alter von sieben Jahren gaben seine Eltern ihn aufgrund materieller Not in die Obhut des katholischen St. Vincent-Heims in Cloppenburg. 1932 wurde er anschließend in die Heil- und Pflegeanstalt Marsberg verlegt. Zusammen mit geistig behinderten Kindern war er hier „rassenhygienischen Maßnahmen“ der Anstaltsärzte ausgesetzt. Die Kinder des St. Vincent-Heims wurden vom Schulunterricht systematisch ausgeschlossen. Körperliche Bewegung sowie sprachliche Kommunikation wurden den Insassen verboten.

 

1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durch das nationalsozialistische Regime verabschiedet und trat 1934 in Kraft. Am 12. März 1938, im Alter von 16 Jahren, wurde Paul Wulf aufgrund von angeblich „angeborenem Schwachsinn ersten Grades“ im Landeskrankenhaus Paderborn zwangssterilisiert. Seine Eltern stimmten der Zwangssterilisation zu – aus Angst um das Leben ihres Kindes, wie die Mutter behauptete: „Dann haben wir einen Bescheid gekriegt, daß wir zu den Herren Ärzten kommen sollten ... Darum, – lieber das ... als in die Gaskammer, habe ich gesagt. Das hab' ich gesagt. Mehr konnte ich auch nicht sagen." (zit. nach Krieg 1999, S. 8). Die traumatischen Erfahrungen prägten „…  prägten das gesamte weitere Leben des ‚Freidenkers und Antifaschisten“, wie ihn seine Unterstützen aus dem „Freundeskreis Paul Wulf“ (2007; 1999) in Münster nannten.

 

Kampf um Entschädigung

Nach seiner Entlassung aus der Anstalt in Niedermarsberg 1949 kämpfte Paul Wulf jahrzehntelang juristisch und politisch für Aufklärung und Entschädigung. Er musste beweisen, dass er keineswegs „schwachsinnig“ ist. Durch die Unfruchtbarmachung war er allerdings körperlich und psychisch schwer beeinträchtigt und erwerbsunfähig geworden. 1950 forderte Paul Wulf vor dem Amtsgericht in Hagen Schadensersatz und Frührente. Das Gericht lehnte den Antrag mit folgenden Gründen ab: „Erfahrungsgemäß behaupten die Betroffenen, durch die Unfruchtbarmachung körperliche Schäden, die zur Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsbehinderung geführt haben sollen, erlitten zu haben. Die Erfahrung des Wiederaufnahmegerichts lehrt, daß diese körperlichen Schäden durchweg simuliert werden.“ (zit. nach Krieg 1999, S. 9). Nur selten fand Wulf regelmäßige Lohnarbeit.. 1955 beantragte er weitere finanzielle Entschädigung, doch das Dezernat für Wiedergutmachung des Regierungspräsidenten in Münster beschied wiederum abschlägig, da die Sterilisation aufgrund einer Diagnose und nicht aufgrund einer Verfolgung angeordnet und durchgeführt worden sei. Erst am 8.Mai 1979 wurde es Paul Wulf durch ein Gutachten eines Tübinger Arztes, der eine schwerwiegende „Neurose“ nachwies, möglich, eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu beziehen (vgl. dazu Roth 1985).

 

Werke und politische Arbeit

Die Forderung nach Entschädigungen für Zwangssterilisierte und die Informationsarbeit über die politischen Umstände der Nichtentschädigung standen im Mittelpunkt der politischen Arbeit von Paul Wulf und Mitbegründer der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Solche oftmals lokal begonnenen Aktivitäten trugen dazu bei, dass der Deutsche Bundestag 1981 beschloss, den noch lebenden Opfern der NS-Zwangssterilisierungen eine Entschädigung von 5000 DM zu zahlen (vgl. GAL/GRÜNE 1989, S. 23 f.). Paul Wulf wurde  bekannt durch seine Ausstellungen von Collagen aus Archivmaterial zur Eugenik und den Patiententötungen, zur „Aktion T-4“, zur Zwangssterilisation sowie zur Situation von Frauen, Jugendlichen und Sinti und Roma im NS-Staat. 2007 publizierten die Unterstützer vom „Freundeskreis Paul Wulf“ in Münster eine Dokumentation über Paul Wulf und seinen Mitautor Paul Brune unter dem Titel Lebensunwert? Paul Wulf verstarb 1999 im Alter von 78 Jahren.

 

Auszeichnungen

1991: Bundesverdienstkreuz am Bande.

2012: Straßenumbenennung in „Paul-Wulf-Weg“, Münster.

 

Literatur

Cloots, A. (2005): Medien zum Thema „Euthanasie für die Bildungsarbeit“. In: M. Köster (Hg.): Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Das Begleitheft zur DVD. Münster: Westfälisches Landesmedienzentrum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, S. 27-29.

Dillmann, K. (1984): Ein ehrlicher Anarchist und Antifaschist. In K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe.“ Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 135-141.

Freundeskreis Paul Wulf (2007, Hg.): Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand. Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution.

Freundeskreis Paul Wulf (1999, Hg.): Paul Wulf. Ein Antifaschist und Freidenker. Münster: Verlag Graswurzelrevolution.

GAL/GRÜNE (1989, Hg.): NS-Verfolgte 40 Jahre ausgegrenzt und vergessen. Dokumentation einer Anhörung vom 18. Februar 1989 in Münster. Münster: Druckwerkstatt.

Kersting, F.W. (2005): Psychiatrie in Westfalen zwischen NS-„Euthanasie“ und Reform. In: M. Köster (Hg.): Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Das Begleitheft zur DVD. Münster: Westfälisches Landesmedienzentrum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, S. 11-26.

Klee, E. (1983): „Euthanasie” im NS-Staat. Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt am Main: Fischer.

Köster, M. (2005): Einführung. In: M. Köster (Hg.): Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Das Begleitheft zur DVD. Münster: Westfälisches Landesmedienzentrum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, S. 5-7.

Krieg, R. (1999): Wiedergutmachung eines Zwangssterilisierten im Nachkriegsdeutschland. In: Freundeskreis Paul Wulf: Paul Wulf. Ein Antifaschist und Freidenker. Münster: Verlag Graswurzelrevolution, S. 7-19.

Krieg, R. (1984): Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W. Wiedergutmachung eines Zwangssterilisierten im Nachkriegsdeutschland. In:K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 17-37.

Krieg, R. (1984a): Schöne neue Welt – Menschenzucht und Sterbehilfe. Begegnungen mit Paul Wulf. Gedichte und Texte von Paul Wulf. In: K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 105-114.

Krieg, R., M. Nolte (2005): Das Leben des Paul Brune. In: M. Köster (Hg.): Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Das Begleitheft zur DVD. Münster: Westfälisches Landesmedienzentrum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, S. 8-10.

Pade, V. (1984): Paul Wulf – ein Kämpfer für Gerechtigkeit. In:  K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 123-126.

Roth, K., H. (1985): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 11-17.

Schmidt, C. (2005): „Medizin ohne Menschlichkeit“. Internetforen und didaktische Mappen. In: M. Köster (Hg.): Lebensunwert. Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Das Begleitheft zur DVD. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, S. 30-31.

Wulf, P. (1984): Die religiöse Lüge. In: K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 141-143.

Wulf, P. (1984): Die verdächtigen Heiligtümer. In: K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 114-116.

Wulf, P. (1984): Paul Wulf, „Zwangssterilisiert“- Biographische Notizen von Paul Wulf. In: Karl Heinz Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 11-17.

Wulf, P. (1984): Wer fürchtet sich vor Franz Josef Strauß. In: K. H. Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“. Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, S. 132-135.

 

Radio

Blödow, K. (1999): Interview in „News Magazin“, 11. Juli 1999. Im Gespräch mit Bernd Drücke über Paul Wulf. [CD-ROM, Medienforum Münster]..

Schmidt-Schleicher, A. (1999): Paul Wulf-Portrait und Nachruf. Interview in „News Magazin“, 31. Juli 1999. Im Gespräch mit Volker Pade, Walter Schopp, Norbert Eilinghoff, Andreas Balke und Willi Quiel. [CD-ROM, Medienforum Münster].

 

Film

Krieg, R., D. Wünneberg, P. Wulf (1979): Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W. Ein Film über die Folgen von Rassegesetzen und Zwangssterilisierungen im 3. Reich; BRD, Videofilm, halbzoll s/w, ca. 45 Min.

 

Jessica Thönnissen

 

Zitierweise
Jessica Thönnissen (2015): Wulf, Paul.
In: Biographisches Archiv der Psychiatrie.
URL: biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/212-wulf-paul
(Stand vom:25.04.2024)